Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
ohnehin nicht, weil man die aus seinem Gedächtnis löschte. Man erzählte nicht bei ein paar Drinks an der Bar, wie das Gesicht eines Freundes von einer Gewehrkugel in eine formlose, blutige Masse verwandelt wurde, denn das war nichts, was man jemandem beschreiben konnte, der es nicht verstand. Und jemandem, der es verstand, brauchte man es nicht zu beschreiben. Man hob nur sein Glas zu einem Toast auf das Andenken von Grischa oder Mirka oder eines der anderen, und unter Soldaten war das genug. Hielten das auch diese Männer so? Wahrscheinlich. Auch sie hatten mal Kameraden verloren, als irische Terroristen ihren Stützpunkt angriffen, zum denkbar höchsten Preis zwar, aber dennoch nicht, ohne diesen bestens ausgebildeten Männern einigen Schaden zuzufügen.
Und darauf kam es beim Kriegshandwerk letztendlich an. Man übte, um den Chancen einen Anstoß in die eigene Richtung zu geben, aber ganz konnte man sie nie in die Richtung lenken, in der man sie haben wollte.
Yu Chun hatte einen besonders schlimmen Tag hinter sich. Sie hatte gerade in der taiwanesischen Hauptstadt Taipei ihre alte, schwer kranke Mutter gepflegt, als eine Nachbarin anrief, sie solle sofort den Fernseher einschalten, worauf sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Mann vor ihren Augen erschossen wurde.
Als sie daraufhin versucht hatte, umgehend nach Peking zu kommen, waren die ersten beiden Flüge nach Hongkong ausgebucht gewesen. Und das hatte vierzehn einsame Stunden tief verzweifelter Trauer bedeutet, die sie als ein anonymes Gesicht in einem Meer ähnlicher Gesichter verbringen musste, ganz allein mit ihrem Schmerz und ihrem Verlust, bis sie endlich einen Platz in einer Maschine in die Hauptstadt der Volksrepublik bekam. Der Flug war unruhig, und sie drückte sich tief in ihren Sitz in der letzten Reihe, in der Hoffnung, dass so niemand die Verzweiflung in ihrem Gesicht sehen würde. Irgendwann war auch diese Prüfung überstanden, und sie schaffte es, das Flugzeug aus eigener Kraft zu verlassen. Weil sie buchstäblich nichts bei sich trug, worin sie Schmuggelgut hätte verstecken können, hatte sie Passkontrolle und Zoll erstaunlich rasch passiert. Dann begann mit der Taxifahrt zu ihrem Haus alles wieder von vorn.
Ihr Haus war von Polizisten umstellt. Yu Chun versuchte sich hindurchzuzwängen, aber die Polizei hatte Anweisung, niemanden ins Haus zu lassen, und diese Anweisungen erstreckten sich auch auf Personen, die in diesem Haus lebten. Um das festzustellen, waren zwanzig Minuten und drei Polizisten von zunehmend höherem Dienstgrad erforderlich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Yu Chun 26 Stunden nicht mehr geschlafen und war 22 davon unterwegs gewesen. Da ihr Tränen in dieser Situation nicht weiterhalfen, ging sie zum nahe gelegenen Haus von Wen Zhong, einem Gemeindeglied ihres Mannes, der dort ein kleines Restaurant betrieb. Der normalerweise immer gut gelaunte große, rundliche Mann war bei allen gut gelitten. Als er Chun sah, umarmte er sie und führte sie ins Haus, wo er ihr sofort ein Zimmer zur Verfügung stellte. Yu Chun brachte nicht mehr viel mehr hervor, als dass sie die Leiche ihres Mannes nach Hause überführen wollte, bevor sie zu Tode erschöpft einschlief. Daraufhin wurde Wen sofort aktiv. Ihm war natürlich klar, dass er sein Vorhaben nicht allein in die Tat umsetzen konnte. Deshalb rief er mehrere andere Gemeindeglieder an, um ihnen mitzuteilen, die Witwe ihres ermordeten Pastors sei in der Stadt. Er wusste, dass sie ihren ermordeten Gatten in Taiwan begraben lassen wollte, weil Yu dort geboren war, aber seine Gemeinde konnte von ihrem geliebten Seelenhirten unmöglich ohne eine eigene Feier Abschied nehmen. Deshalb startete er einen Rundruf, um in ihrem kleinen Gotteshaus eine eigene Gedenkfeier zu veranstalten. Er konnte nicht ahnen, dass eins der Gemeindeglieder, die er anrief, unverzüglich dem Ministerium für Staatssicherheit Meldung erstattete.
Barry Wise war sehr zufrieden mit sich. Obwohl er nicht so viel verdiente wie seine Kollegen bei den anderen so genannten ›großen‹ Sendern – CNN hatte keine Unterhaltungsabteilung, um Geld in die Nachrichten pumpen zu können –, nahm er an, mindestens genau so bekannt zu sein wie deren (weiße) Korrespondenten. Von denen unterschied er sich auch dadurch, dass er ein seriöser Journalist war, der selbst loszog, seine eigenen Storys auftat und seine eigenen Texte schrieb. Barry Wise machte die Nachrichten und das war alles. Er hatte einen Pass für den
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