Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
Leiche ihres Mannes, Yu Fa An. Sie will wissen, an wen sie sich wenden soll.«
Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten, denn auch der andere Polizist musste erst einmal überlegen. »Ach ja, sagen Sie ihr, sie soll zum Da-Yunhe-Fluss gehen. Die Leiche wurde verbrannt und die Asche gestern abend in den Fluss gekippt.«
Auch wenn der Mann ein Feind des Volkes gewesen war, war es nicht angenehm, der Witwe so etwas mitteilen zu müssen. Hauptwachtmeister Jiang legte zögernd auf.
»Die Leiche von Yu Fa An wurde eingeäschert und die Asche in den Fluss geschüttet, Genossin.«
»Aber das geht doch nicht!«, protestierte Wen sofort. Chun war zu schockiert, um etwas zu erwidern.
»Mehr kann ich nicht für Sie tun«, erklärte der Polizist und wandte sich wieder seinen Papieren zu, in der Hoffnung, sie dadurch loszuwerden.
»Wo ist mein Mann?«, platzte Yu Chun schließlich nach einigen Sekunden des Schweigens heraus.
»Die Leiche Ihres Mannes wurde verbrannt und die Asche im Wasser verteilt«, wiederholte der Polizist, ohne aufzublicken, weil er ihr unter diesen Umständen nicht in die Augen sehen wollte. »Ich kann nicht mehr für Sie tun. Gehen Sie jetzt bitte.«
»Ich will meinen Mann zurück!«, verlangte sie.
»Ihr Mann ist tot und seine Leiche wurde verbrannt. Und jetzt gehen Sie!«
»Ich will meinen Mann!«, wiederholte Yu Chun darauf so laut, dass sich mehrere Leute nach ihr umdrehten.
»Er ist weg, Chun«, sagte Wen Zhong und nahm sie am Arm, um sie zum Ausgang zu führen. »Kommen Sie, wir beten draußen für ihn.«
»Aber warum haben sie ihn … ich meine, warum ist er… warum konnte ich ihn nicht…« Es war einfach zu viel für sie. Der Mann, mit dem sie über zwanzig Jahre verheiratet gewesen war, war tot, und jetzt bekam sie nicht einmal die Urne mit seiner Asche. Das war ein schwerer Schlag für eine Frau, die sich nie etwas hatte zuschulden kommen lassen – außer vielleicht, dass sie einen Christen geheiratet hatte. Aber wem hatte sie damit schon geschadet? Hatte einer von ihnen, hatte irgendein Gemeindeglied jemals Verrat gegen den Staat begangen? Nein. Hatte jemand von ihnen jemals gegen ein Gesetz verstoßen? Nein. Und warum tat man ihr dann so etwas an? Sie fühlte sich derart vor den Kopf gestoßen, dass sie sich schließlich einzureden begann, es wäre alles ihre Schuld.
Sie wusste nicht, was sie noch tun konnte, zu welchen rechtlichen oder sonstigen Mitteln sie greifen konnte. Nicht einmal ihr eigenes Haus, dessen Wohnzimmer so oft als Gottesraum gedient hatte, durfte sie betreten, um dort für Yus Seele zu beten und sie Gottes Obhut und Gnade anzuempfehlen. Stattdessen würden sie woanders – ja, wo nur? – beten müssen. Eins nach dem anderen. Sie und Wen verließen die Dienststelle, um den Blicken zu entfliehen, die sich fast spürbar auf sie geheftet hatten. Doch im Freien empfand Yu Chun die Sonne als weiteren Störfaktor, denn eigentlich hätte dies ein Tag der Stille und des einsamen Gebets zu einem Gott werden sollen, dessen Gnade im Augenblick nicht unbedingt sichtbar war. Stattdessen attackierte das grelle Sonnenlicht ihre Augen und brachte unerwünschte Helligkeit in das Dunkel, das ihr vielleicht Frieden hätte vorgaukeln können. Sie hatte bereits einen Flug über Hongkong zurück nach Taipei gebucht, wo sie wenigstens zusammen mit ihrer Mutter trauern konnte, die ihrerseits auf den Tod wartete, denn die alte Frau war bereits über neunzig und bei schlechter Gesundheit.
Für Barry Wise hatte der Tag schon vor Stunden begonnen. Seine Kollegen in Atlanta hatten ihm eine E-Mail geschickt, in der sie ihn halb in den Himmel hoben für seinen Bericht. Vielleicht ein weiterer Emmy, meinten sie. Wise freute sich zwar, wenn er einen Preis bekam, aber das war nicht der Grund, weshalb er seine Arbeit tat. Er hätte nicht einmal sagen können, dass ihm seine Arbeit Spaß machte, denn die Dinge, über die er berichtete, waren selten erfreulich. Es war einfach sein Job, die Tätigkeit, für die er sich entschieden hatte. Wenn es etwas daran gab, was ihm gefiel, dann war es die Unvorhersehbarkeit. Oft hatte er zwar schon eine vage Vorstellung, wo sich die Story abspielen und worum es dabei gehen könnte, aber sicher konnte man da nie sein, und genau diese Unvorhersehbarkeit machte seinen Job so interessant und abenteuerlich. Er hatte gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen, und heute brachte ihm dieser in Erinnerung, dass einer der Männer, die gestern erschossen worden
Weitere Kostenlose Bücher