Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
was bei uns mit vielen neugeborenen Mädchen geschieht ...«
Nomuri nickte. »Ich habe davon gehört. Schreckliche Geschichten«, stimmte er ihr zu. Es kam angeblich nicht selten vor, dass ein Vater seine gerade auf die Welt gekommene Tochter in der Hoffnung ertränkte, seine Frau würde ihm beim nächsten Mal einen Sohn schenken. In der Volksrepublik war Ehepaaren nur ein einziges Kind gestattet, und wie die meisten in diesem Land erlassenen Verordnungen wurde auch diese mit aller Konsequenz angewandt. Unerwünschte Kinder wurden zwar meistens ausgetragen, aber noch während der Geburt, schon wenn sich der Kopf zeigte, zog der Arzt oder die Geburtshelferin eine Spritze mit Formaldehyd auf, einem Gift, das dem Kind in die Fontanelle injiziert wurde und das Leben beendete, kaum dass es begonnen hatte. Natürlich machte die Regierung so etwas nicht als offizielle Politik publik, aber nichtsdestotrotz war es ihre Politik. Alice, eine von Nomuris Schwestern, war Ärztin, genauer: Fachärztin für Geburtshilfe und Gynäkologie, und Nomuri war sicher, dass sie sich eher selbst vergiften oder den, der so etwas von ihr verlangte, töten würde, als solch eine barbarische Tat zu begehen. Wie auch immer, manche überzähligen Mädchen schafften es dennoch, mit dem Leben davonzukommen. Viele von ihnen wurden dann allerdings zur Adoption freigegeben und häufig an eine Familie aus dem Westen abgetreten. Was woanders zu Recht als Genozid bezeichnet worden wäre, nannte sich hier Geburtenkontrolle. »Zu gegebener Zeit wird China den Wert von Frauen wieder zu schätzen wissen, Ming. Mit Sicherheit.«
»Ich denke auch«, sagte sie. »Wie behandelt man die Frauen in Japan?«
Nomuri schmunzelte. »Dort stellt sich die Frage etwas anders, nämlich: Wie gut behandeln sie unsereins? Oder: Was ist uns in unserem Verhältnis zu Frauen überhaupt gestattet?«
»Wirklich?«
»O ja. Meine Mutter hat in unserem Haus bis zu ihrem Tod das Regiment geführt.«
»Interessant. Sind Sie religiös?«
Wieso fragt sie das? , wunderte sich Chet.
»Ich habe mich immer noch nicht zwischen Shinto und Zen-Buddhismus entscheiden können«, antwortete er, ohne zu lügen. Er war methodistisch getauft, aber schon viele Jahre nicht mehr zur Kirche gegangen. In Japan hatte er sich mit den dort ausgeübten Religionen beschäftigt, um ein besseres Verständnis für Land und Leute zu gewinnen, hatte dann aber feststellen müssen, dass ihm keine sonderlich zusagte. »Und Sie?«
»Ich habe mich mal kurz für Falun Gong interessiert, aber nicht ernstlich. Ein ehemaliger Freund von mir war Anhänger – und sitzt jetzt im Gefängnis.«
»Traurig.« Nomuri nickte mitleidsvoll und fragte sich, wie nah ihr dieser Freund wohl gewesen sein mochte. Der Kommunismus war immer noch eine eifersüchtige Weltanschauung, die ideologische Konkurrenz nicht tolerierte. In Amerika erlebten derzeit die Baptisten einen erstaunlichen Aufschwung, der anscheinend dem Internet zu verdanken war. In dessen Möglichkeiten amerikanische Christen, vor allem Baptisten und Mormonen, seit kurzem jede Menge Geld und Hoffnung investierten. Ob auch Jerry Farwell, der erzrechte Anführer der Christian Coalition, über dieses Medium an Einfluss dazu gewinnen konnte? Es wäre erstaunlich – oder auch nicht. Das Problem des Marxismus-Leninismus oder auch des Maoismus bestand darin, als theoretisches Modell ganz ansprechend zu sein, aber dabei völlig zu verkennen, wonach Menschen streben. Die Falun-Gong-Gruppe hatte mit Religion eigentlich nichts zu tun, jedenfalls nicht nach Nomuris Verständnis dessen, was Religion ausmachte, aber aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand, hatte diese Gruppe die Mächtigen Chinas so sehr in Angst versetzt, dass sie darauf einschlugen wie auf eine konterrevolutionäre Bewegung. Er hatte davon gehört, dass die Anführer dieser Gruppe zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren. Was es in China bedeutete, hart bestraft zu werden, war ein Gedanke, den Nomuri gar nicht erst vertiefen wollte. In diesem Land waren einige der schlimmsten Foltermethoden erfunden worden, und ein Menschenleben zählte hier noch weniger als in dem Land seiner Vorfahren. China war ein uraltes Land mit einer uralten Kultur, aber manche seiner Einwohner hätten auf ihn nicht fremder wirken können als die Klingonen. »Nun, wie dem auch sei, ich persönlich mache mir nicht viel aus religiösen Überzeugungen.«
»Überzeugungen?«
»Glaubensvorstellungen«, korrigierte sich der
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