Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
Zeit zu gehen. Er nahm seinen Mantel vom Kleiderständer und begab sich nach draußen, wo sein Dienstwagen stand. Damit fuhr er zu Boris Godunow’s, einer gemütlichen Bar in der Nähe der amerikanischen Botschaft. Er war erst fünf Minuten dort, als sich ihm eine vertraute Hand auf die Schulter legte.
»Hallo, Mischka«, sagte Prowalow, ohne sich umzudrehen.
»Schön zu sehen, dass russische Bullen nicht anders sind als die amerikanischen.«
»Auch wie die von New York?«
»Darauf kannst du wetten«, versicherte Reilly. »Was gibt’s Besseres als am Abend ein paar Drinks mit einem Freund, wenn man den ganzen Tag lang Verbrecher gejagt hat?« Der FBI-Agent gab dem Mann am Tresen mit Handzeichen zu verstehen, dass er das Übliche haben wollte, Wodka und Soda. »Außerdem lässt sich an solchen Orten auch sehr gut Dienstliches regeln. Apropos, hat sich was Neues in diesem Luden-Fall ergeben?«
»Ja, die Killer sind in St. Petersburg aufgetaucht, als Leichen in der Newa.« Prowalow leerte mit einem Schluck den Wodkarest im Glas und klärte den amerikanischen Freund über die Einzelheiten auf. Zum Schluss fragte er: »Was hältst du davon?«
»Es war wahrscheinlich entweder Strafe oder Prophylaxe. So was ist mir schon häufiger untergekommen.«
»Prophylaxe?«
»Ja, so wie vor einiger Zeit in New York. Die Mafia ließ Joey Gallo ausschalten – in aller Öffentlichkeit, ganz spektakulär –, und zwar durch einen schwarzen Ganoven, der unmittelbar darauf selbst ins Gras beißen musste. Er wurde aus nächster Nähe abgeknallt. Prophylaxe, Oleg. Damit er über seinen Job nichts ausplaudern konnte. Sein Killer hat sich verdünnisiert und konnte nie ermittelt werden. Aber vielleicht war’s in unserem Fall auch eine Strafaktion, dafür zum Beispiel, dass sie ihren Job schlecht gemacht und den Falschen erwischt haben. Worum wollen wir wetten?«
»Es könnte komplizierter werden als gedacht.«
Reilly nickte. »Und du hast ein paar Spuren mehr zu verfolgen. Vielleicht haben die beiden Killer noch mit irgendjemandem gesprochen. Wer weiß, womöglich haben sie sogar Tagebuch geführt.« Als wäre ein Stein ins Wasser geworfen worden, dachte Reilly. Die Wellen liefen immer weiter auseinander. Anders als bei den üblichen primitiven Morden, aus Eifersucht oder Hass, mit geständigen, heulenden Tätern, die nicht fassen konnten, was sie da getan hatten. Wie auch immer, es war ein entsetzlich lautes Verbrechen, und solche Verbrechen wurden, wenn überhaupt, mit Hilfe von Leuten aufgeklärt, die den Lärm gehört hatten und etwas darüber aussagen konnten. Dann waren nur noch ein paar zusätzliche Beamte nötig, die Klinken putzen und sich die Hacken ablaufen würden. Diese russischen Polizisten waren beileibe nicht dumm. Es mangelte ihnen nur ein bisschen an Training, aber sie hatten die richtigen Instinkte. Und so viel stand fest: Eine nach allen Regel der Polizeikunst geführte Ermittlung würde erfolgreich sein. Gewiss auch in diesem Fall. Die andere Seite war offenbar nicht die cleverste. Wer auf so krasse Weise das Gesetz brach, war nicht ganz bei Trost. Nein, ein perfektes Verbrechen war eines, das gar nicht als solches in Erscheinung trat, das das Opfer auf ewig verschwinden ließ oder dafür sorgte, dass gestohlene Gelder auf Buchungsfehler zurückgeführt werden konnten oder dass Spionage unentdeckt blieb. Wenn man von einer kriminellen Tat erst einmal wusste, hatte man ein Packende, und alles andere war dann wie das Aufribbeln eines Wollpullovers. Es gab letztlich nicht viel, was den Faden zusammenhielt, wenn man daran zog.
»Sag mal, Mischka, wie gewitzt sind eigentlich eure Mafiosi in New York?«, fragte Prowalow, nachdem er an seinem zweiten Drink genippt hatte.
Auch Reilly gönnte sich noch einen Schluck. »Wie in den Filmen darfst du sie dir nicht vorstellen, Oleg. In der Regel sind diese Gangster ziemlich billig. Schlecht ausgebildet und zum Teil mächtig auf den Kopf gefallen. Früher einmal galt als ihr Gütesiegel, dass sie absolut dicht halten konnten und sich ohne Wenn und Aber an ihre Schweigepflicht hielten, die Omertà. Dass sie mit der Polizei zusammengearbeitet hätten, war so ziemlich ausgeschlossen. Aber auch das hat sich verändert. Die alten, aus Italien eingewanderten Mafiosi sind tot und die neue Generation ist sanfter. Zum einen drohen heutzutage härtere Strafen, und außerdem ist deren Organisation zusammengebrochen. Sie kümmern sich nicht mehr wie früher um die Familien derer, die
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