Im Zeichen des großen Bären
Ereignis im Hause seines Bärenführers in Kenntnis gesetzt.
Für William bedeutete es neue Hoffnung, diesen zweiten Sohn zu haben. Und für Jim war dessen Ankunft ein reiner Glücksfall. Denn plötzlich wurde sein Dad nachgiebig. Er ließ ihm die Leine lang. Er lauschte aufmerksam dem Zeichenlehrer von Jims Schule, der beteuerte, Jim sei der begabteste Schüler in seinem Fach, den er jemals gehabt habe.
»Vielleicht ist es ganz gut, auch mal einen Künstler in der Familie zu haben«, gab William seinem Ältesten nach. »Außerdem steht dir dein Elternhaus immer offen, das weißt du, mein Junge.«
»Ich bin sicher, daß du es nicht bereuen wirst, Dad!«
Von da an besserte sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn zusehends. Er begleitete seine Eltern sogar zum ›Dominion Day‹ nach Toronto.
Es war der 1. Juli 1923. Wie jedes Jahr fand ein festlicher Umzug statt, an dem sich alle Volksgruppen Kanadas mit geschmückten Wagen und kostümierten Leuten beteiligten.
Die Yonge Street war dicht gesäumt von Zuschauern, die der Pracht der Kostüme, dem Einfallsreichtum der Tänze und Blumenarrangements und den Künsten der Kapellen lauten Beifall zollten.
Der schreckliche Krieg in Europa war fast fünf Jahre vorüber. Tausende von Kanadiern waren gefallen. Aber Zeit heilt Wunden. Man wollte vergessen. Selbstverständlich gehörte auch eine Abordnung des 159. Infanterieregiments zum Zug. Auch die Militärkapelle marschierte mit. William Rockwell und seine Familie hatten Ehrenplätze auf der Tribüne erhalten. Und da defilierten sie alle vorbei: Chinesen und Japaner, Kubaner und Deutsche, die ihren Karneval als ›Mardi Gras of Germany‹ in Sepplhosen und Dirndlkleidern vertraten, französische und britische Vereine – und Miss Kanada. Nur Indianer waren nicht dabei. Man erinnerte sich nicht so gern an diesen dunklen Fleck auf der weißen Weste des nationalen Selbstverständnisses.
Oberst Powell hatte es sich nicht nehmen lassen, in Uniform seiner Truppe voranzuschreiten.
»Daddy, Daddy!« rief ein Mädchen unweit der Rockwells auf der Tribüne.
Um Jim Rockwell war es geschehen. Zum erstenmal in seinem Leben war er verliebt.
Mabel Powell, ein etwas pummeliges, fünfzehnjähriges Prachtmädchen mit blonden Locken und dem rotbäckigen Pausbackengesicht eines Lackbildengels, erschien ihm als reine Verkörperung weiblicher Schönheit.
Als Jim später Mabel vorgestellt wurde, wurden seine Handflächen feucht. Verstohlen wischte er sie an seinem Hemd ab. Dann reichte Mabel ihm gnädig die Hand. Er stotterte irgend etwas. Sie gab schnippisch Antwort. Was sie sagte, war sicher nicht erleuchtet, aber Jim fand es hinreißend. »Voriges Jahr war es viel schöner. Auch viel wärmer«, sagte sie und starrte den verdatterten Jim so böse an, als hätte er die Sache vermasselt.
Das war alles gewesen. Doch für einen Jungen, der aus Port Hope kam, genügte es zum Träumen.
Er trug Mabels Bild im Herzen. Es war sehr haltbar, ja, es nahm immer schönere, idealere Formen an.
Selbst Montreal und all die neuen Eindrücke an der Kunsthochschule konnten sein blondes Idol nicht völlig aus seinen Gedanken verdrängen. Er hatte Mabel zweimal von ferne gesehen. Sie hatte ihn überhaupt nicht beachtet. Einmal war sie mit Freundinnen zusammen gewesen, und obwohl sie genauso gekichert und gegackert hatte wie die anderen Mädchen, war sie Jim doch viel ernster und irgendwie bedeutend erschienen. Das zweite Mal saß sie wieder auf der Tribüne beim ›Dominion Day‹. Jim hatte vom Umzug überhaupt nichts mitbekommen. Sein Herz tobte bei der Vorstellung, er werde sie nachher begrüßen und mit ihr sprechen. Doch sie war wie ein Blitz verschwunden.
Um sich ein wenig zu trösten und zu zerstreuen, hatte Jim sich häufiger anderen jungen Damen zugewandt. Und siehe da: Sie waren nicht so unnahbar wie seine Göttin. Im Gegenteil. Der hübsche blonde Junge mit den hellen Augen, den breiten Schultern und dem leicht verträumten Wesen war ein ausgesprochener Erfolg bei Mädchen. Nur eben nicht bei der Einen!
Montreal – das war eine andere Welt, ganz nah und doch fast exotisch für Leute aus Sarnia, Port Hope und Toronto. Montreal mit seiner stark französischen Prägung war unbestimmter, lebhafter, schillernder, mehr der musischen Seite des Lebens zugewandt, jedenfalls, wenn man – wie Jim – im Vieux Montréal, der Altstadt, wohnte.
Jim widmete sich mit Feuereifer seinen Studien. Schwer genug hatte er sich dieses Privileg erkämpfen
Weitere Kostenlose Bücher