Im Zeichen des großen Bären
nicht mehr. Zu lange hatte sie bereits um William gebangt. Alle Tränen sind geflossen, dachte sie. Fürs erste. Vielleicht werde ich später wieder dieser Wohltat teilhaftig. Irgendwann werden die Tränen wieder fließen. Jetzt brauche ich alle Kraft, meinem geliebten Mann seine letzten Stunden und Tage zu erleichtern. Daß William sterben mußte, stand für sie fest.
Und er wußte es auch.
Bevor Sohn und Tochter eintrafen, kam überraschender Besuch. General Powell stand in der Tür. »Na, wie geht's unserem Patienten?« schmetterte er. Wenn er erschrak bei Williams Anblick, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
William verzog sein Gesicht zu einer Art Lächeln. »Ich will auf meine alten Tage nicht extra lügen«, grinste er schief. »Mir ist's schon besser ergangen.«
Jenny schob Powell einen Stuhl ans Bett und gab ihrem jüngsten Sohn einen Wink mit den Augen. Sie verließen beide das Zimmer. Jenny wußte, wieviel diese Kameradschaft ihrem Mann bedeutete. Eine Frau konnte das nie nachfühlen. Es mußte etwas sein, das fast in den Tod hineinragte. Die gemeinsame Gefahr vielleicht, die sie damals ausgestanden hatten.
»Wußten Sie schon, daß der alte Rockwell abfährt? Oder hat Ihr Besuch eine andere Bedeutung als Abschied?« fragte William.
»Ich … also … nun ja, ich wollte Sie einfach mal so überfallen …«
»Überfallen … Tscha, ein Überfall auf mich würde sich nicht mehr lohnen. Ich bin groggy.«
»Soweit ist es noch nicht, William!«
»Schon gut. Ich bin im großen und ganzen nicht unzufrieden.«
»Ich auch nicht. Nicht privat. Aber es sieht nicht gut aus in der Welt. Europa ist mehr als ein großes Pulverfaß. Und wir beide wissen ja nur zu gut aus eigener Erfahrung, daß wir hier in Kanada nicht weit vom Schuß sind. Ich denke mit Besorgnis an all die Söhne, auch an meinen Schwiegersohn.«
»Ich habe zwei Söhne und einen Schwiegersohn«, murmelte Rockwell, »möge Gott ihnen dieses Schicksal ersparen.«
»Amen.«
»Was wollten Sie nun wirklich, Herr General?«
Powell holte tief Luft. »Also gut. Ich wollte es Ihnen persönlich bringen …« Er fummelte in der Tasche herum, und dann legte er das Telegramm aus London auf die Bettdecke.
William Rockwell sah nur flüchtig darauf hin, ohne es zu lesen. »Kitchener ist tot?«
»Ja. Ich habe schon mit London telefoniert. Es war Krebs. Er hat nicht gelitten.«
William Rockwell schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, glänzten sie unnatürlich. »Ist der alte Bursche mir also vorangegangen. Ob Bären wohl in den Himmel kommen? Ob es da eine besondere Bärenabteilung gibt? Vielleicht eine Art himmlischen Zoo mit Freigehege und täglichen Gaben von Mirabellen Marke ›Goudben und Co.‹ aus Los Angeles? Wissen Sie noch, wie wir ihn fanden? Der Micklewhite wäre fast umgekommen vor Lachen. Und wir haben sicher nicht oft im Leben so dämlich aus der Wäsche geguckt wie damals …«
»Ich war noch Leutnant. Es hatte wochenlang gegossen. In Strömen. Die Deutschen pumpten ihre Stellungen leer«, sagte Powell versonnen.
»Ich habe oft daran gedacht.«
»Ich auch. Wir werden dieses Jahr zum ›Kitchener-Tag‹ eine große und besonders festliche Parade machen. Erholen Sie sich also bitte möglichst fix, damit Sie dann wieder auf den Beinen sind.«
William lächelte ein wenig. »Wir beiden brauchen uns doch nichts vorzumachen. Meine Uhr tickt nicht mehr lange. Ob es etwas mit Schicksal zu tun hat, daß Kitchener gerade jetzt gestorben ist?«
»Wer will das wissen?«
»Ich möchte es schon gern wissen. Überhaupt gibt es eine Menge Fragen, auf die ich noch keine Antwort bekommen habe.« William schloß die Augen. Seine Hand krampfte sich auf der Decke zusammen. Aschfahl wurde die Haut. Offenbar litt er furchtbare Schmerzen.
Powell erhob sich leise und wollte auf Zehenspitzen hinausschleichen.
Da flüsterte William Rockwell: »Die Parade … Ich werde im Geiste dabei sein.«
Powell wandte sich noch einmal um und sagte sehr laut und fest: »Das weiß ich. Ohne Sie könnte diese Parade gar nicht stattfinden, mein Freund.«
Auf der Diele erwartete ihn Jenny. Ihre Augen spiegelten alles Leid der Welt, und Powell legte ihr den Arm um die Schulter. Trost konnte er nicht spenden, doch sollte sie wissen, daß ein Teil der Freundschaft, die sich zwischen ihm und William Rockwell im Laufe der vielen Jahre entwickelt hatte, auch ihr gehörte.
Zu William Rockwells Beerdigung erschien eine Abordnung des 159. Infanterieregiments von
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