Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
kleine Kreuze aufs Papier malte.
»Und dann haben wir noch …«
»Aber Hanne«, fiel Tone-Marit ihr ins Wort.
Håkon merkte, daß er plötzlich angespannt wartete. Hanne Wilhelmsen in ihren Überlegungen zu unterbrechen rächte sich in der Regel durch einen eiskalten Blick, der die meisten für lange, lange Zeit zum Schweigen brachte. Er starrte in eine Schüssel, in der Hoffnung, nicht zum Zeugen dieser Demütigung werden zu müssen. Zu seiner großen Überraschung aber ließ Hanne sich in den Sessel zurücksinken und blickte Tone-Marit freundlich und abwartend an.
»Ab und zu neigen wir doch zum Überinterpretieren«, sagte Tone-Marit eifrig.
»Findest du nicht? Ich meine, der Wächter ist doch bei einer Naturkatastrophe ums Leben gekommen, und die kann schließlich nur der Herrgott arrangieren …«
Sie errötete leicht über dieses kleine religiöse Eingeständnis, sprach aber sofort weiter:
»Und ehrlich gesagt kommt es mir komisch vor, daß Benjamin Grinde sich das Leben genommen haben soll, weil er bereute, die Ministerpräsidentin umgebracht zu haben, die noch dazu eine alte Freundin war. Vielleicht hat sein Selbstmord gar nichts mit dem Fall zu tun! Vielleicht litt er schon lange unter Depressionen? Außerdem wissen wir doch jetzt mit Sicherheit, daß der Wächter die Waffe bei sich zu Hause hatte, und damit ist Benjamin Grinde aus der Sache heraus. Oder nicht?«
»Doch, im Grunde schon. Auf jeden Fall können wir ihn als Mörder wohl ausschließen. Aber sein Selbstmord kann trotzdem etwas mit diesem Fall zu tun gehabt haben. Auf eine andere Weise!«
Niemand sagte etwas, alle hatten aufgehört zu essen.
»Es geht mir darum«, sagte Hanne und räumte sich noch mehr Platz frei, »daß uns die Reihenfolge der Ereignisse manchmal verwirren kann. Wir suchen ein Muster oder eine Logik, wo es keine gibt.«
Sie trommelte mit dem Kugelschreiber auf dem Tisch herum und legte den Kopf schräg. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, und Billy T. wandte sich zu ihr und strich sie ihr hinters Ohr.
»Du bist so niedlich, wenn du so engagiert redest«, flüsterte er und küßte sie auf die Wange.
»Idiot. Hör lieber zu. Falls du noch nüchtern genug bist. Außer den beiden Toten und einigen seltsamen Gegenständen, die auf Abwege geraten waren und sich nun wieder eingefunden haben, hätten wir fast eine Regierungskrise gehabt. Nicht wahr, Øyvind?«
Øyvind Olve kniff hinter seiner schmalen Brille die Augen zusammen. Er hatte dem Gespräch interessiert zugehört, war aber überrascht, daß er selbst etwas sagen sollte.
»Tja«, sagte er zögernd und spielte an seiner Gabel herum. »Eigentlich sogar zwei. Die erste bei der Regierungsbildung. Politisch gesehen haben wir einige Munition für den Wahlkampf bekommen. Die Zentrumsparteien waren ja nicht gerade begeistert von der Möglichkeit, die Macht zu übernehmen.«
»Aber du hast von zwei Krisen gesprochen«, sagte Severin Heger. »Was war denn dann die andere?«
»Der Gesundheitsskandal natürlich. Nicht gerade eine Regierungskrise, aber hart war es schon. Der Sturm hat sich inzwischen gelegt. Tryggves vorläufiger Bericht an das Parlament ist einigermaßen gut aufgenommen worden. Meiner Meinung nach ist der ganze Impfskandal ein Beispiel für den Zynismus, der während des kalten Krieges gewaltet hat. Niemand konnte dem entkommen. Nicht einmal einige hundert Säuglinge.«
Um den Tisch wurde es ganz still. Sie hörten kleine, stapfende Schritte auf der Treppe.
»In gewisser Hinsicht sind diese Kinder Kriegsopfer«, seufzte Øyvind.
Ein Zweijähriger stand in der Türöffnung neben dem prachtvollen großen Kamin aus Speckstein. Er trug einen blauen, mit Fußbällen bedruckten Schlafanzug und rieb sich die Augen.
»Papa! Hassillem kannich schlafen!«
»Hassillem kriegt gleich schöne Gutenachtgeschichten erzählt«, sagte Billy T. und stand auf.
»Billit«, lächelte der Kleine und streckte die Arme nach ihm aus.
»Dauert höchstens fünf Minuten«, sagte Billy T., ehe er verschwand. »Sagt solange nichts Wichtiges.«
»Hanne«, sagte Håkon. »Wenn du dich zwischen der Brage-Wächter-Spur und der Pharmamed-Spur entscheiden müßtest, welche würdest du nehmen? Denn die eine schließt die andere doch aus, oder nicht? Und um ganz ehrlich zu sein, habe ich …«
Er stapelte die Teller aufeinander.
»Anyone for dessert?«
»Herrgott, ist das ansteckend«, murmelte Tone-Marit. »Muß ich Englisch sprechen, um an dieser Runde teilnehmen zu
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