Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
sie mit einem Hämmerchen auf den Tisch. Dann räusperte sie sich und blieb lange schweigend stehen, so daß die Spannung im Saal sich noch steigerte. Endlich schluckte sie so laut und so dicht vor dem Mikrophon, daß es überall im Saal zu hören war.
»Das Parlament ist vollzählig«, sagte sie schließlich und verlas dann die Liste von Stellvertretern, die ausnahmsweise sehr kurz war.
Und das war nur gut so, denn diese Formalitäten wirkten an einem solchen Tag wirklich unangebracht.
»Ministerpräsidentin Birgitte Volter hat uns verlassen«, sagte sie endlich. »Und das auf die denkbar brutalste Weise.«
Finanzminister Tryggve Storstein bekam nichts von der Trauerrede mit. Er war in seine eigenen Gedanken versunken. Alles um ihn herum verfloß zu einem Nebel: die goldenen Verzierungen unter der Decke, der tiefrote Teppichboden, die Stimme der Parlamentspräsidentin. Um seinen Sessel herum schien sich eine Glasglocke gebildet zu haben; er fühlte sich vollständig allein. Er würde zum Parteivorsitzenden gewählt werden. Ruth-Dorthe Nordgarden hatte keine Chance. Dazu war sie viel zu umstritten. Würde er auch Ministerpräsident werden? Er wußte nicht einmal so recht, ob er das wollte. Natürlich hatte er schon mit dem Gedanken gespielt. Damals, vor der großen Auseinandersetzung 1992, als Gro Harlem Brundtland den Parteivorsitz niedergelegt und damit das Hauen und Stechen eröffnet hatte, aus dem Birgitte Volter als Siegerin hervorgegangen war.
Rasch schüttelte er den Kopf. Solche Fragen durfte man nicht stellen. Man tat, was die Situation erforderte. Und die Partei. Er verzog angesichts dieses alten Klischees den Mund und schloß die Augen. Für einen kurzen, befreienden Moment dachte er an die Möglichkeit, daß die Opposition die Macht übernehmen könne; aber sofort verdrängte er diesen blasphemischen Gedanken wieder. Sie mußten versuchen, die Macht zu behalten. Alles andere würde zu Chaos führen.
»Ich möchte abschließend noch den Vorschlag machen, daß Ministerpräsidentin Birgitte Volter auf Staatskosten beigesetzt wird«, sagte die Präsidentin.
Tryggve Storstein fuhr auf.
»Einstimmig angenommen«, die Frau am Rednerpult klopfte mit dem Hämmerchen und fuhr sich in einer raschen Bewegung über die Wange. »Der Außenminister hat um das Wort gebeten.«
Der schlaksige Mann wirkte jetzt noch magerer und verhärmter als am Morgen. Als er hinter dem Rednerpult stand, schien er zunächst ganz verwirrt, dann riß er sich zusammen und wandte sich nach rechts.
»Frau Präsidentin«, sagte er mit kurzem Nicken und schaute auf einen kleinen Zettel, der vor ihm auf dem Pult lag. »Ich habe mir erlaubt, um das Wort zu bitten, weil ich sagen möchte, daß selbstverständlich die gesamte Regierung ihre Ämter zur Verfügung stellen wird.
Das war alles. Er zögerte kurz und rückte seine Brille zurecht, als wolle er noch weiterreden. Dann verließ er das Rednerpult und kehrte zu seinem Platz zurück, ohne den Zettel einzustecken.
»Dann bitte ich um eine Gedenkminute«, sagte die Parlamentspräsidentin.
Die spannungsgeladene Pause dauerte zweieinhalb Minuten. Ab und zu war ein Schluchzen zu hören, aber sogar die Pressefotografen respektierten den feierlichen Moment.
»Die Versammlung ist aufgehoben.«
Die Parlamentspräsidentin benutzte wieder das Hämmerchen.
Finanzminister Tryggve Storstein erhob sich. Anderthalb Tage ohne Schlaf hatten die Wirkung eines Rausches; er schien neben sich zu stehen und starrte seine Hände an, als gehörten sie einem Fremden.
»Für wann ist der Staatsrat einberufen, Tryggve?«
Das war die Kulturministerin, in dunkelgrauem Kostüm und mit einem Make-up, das den Rückschluß erlaubte, daß sie schon lange nicht mehr in einen Spiegel geschaut hatte.
»Zwei Uhr«, antwortete er kurz.
Dann verließen alle den Saal, ruhig und mit gesenkten Blicken, wie ein Leichenzug, der für eine Beisetzung übt. Die Pressefotografen registrierten, daß nur eine einzige zu versuchen schien, ein Lächeln zu verbergen, Gesundheitsministerin Ruth-Dorthe Nordgarden.
Doch es konnte sich natürlich auch um eine Grimasse handeln.
15.32, Straße vor der Kneipe Gamle Christiania
Liten Lettvik verließ die verräucherte Kneipe und überquerte die Straße, um kurz vor der Konditorei stehenzubleiben.
Es war kalt draußen. Wegen des Nieselregens drückte sie sich an die Wand und kehrte der Straße den Rücken zu, als sie Storskogs Nummer wählte.
»Storskog«, kläffte die Stimme wie
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