Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
los, immer schneller und schneller. Die Serie der fünf kleinen Lithographien an der gegenüberliegenden Wand tanzte auf und ab, er mußte auf den Fußboden blicken.
»Darüber will ich nicht sprechen«, sagte er und würgte.
»Aber hören Sie, Grinde …«
»Ich habe Gäste«, unterbrach er sie wütend. »Ich werde heute fünfzig. Dieser Anruf ist einfach eine Unverschämtheit. Das wär’s.«
»Aber Grinde …«
Er knallte den Hörer so heftig auf die Gabel, daß dieser einen Riß bekam.
Aus dem Wohnzimmer hörte er das Kreischen seiner Mutter.
»Und er schäkert mit mir! Stellt euch das vor! Ein fescher, richtig vornehmer Señor. Natürlich ist das nichts Ernstes, das könnt ihr euch ja denken, aber wo ich doch acht Monate des Jahres da unten verbringe, ist ein wenig Aufmerksamkeit doch sehr willkommen.«
Lerche Grinde lachte entzückt. Nina Rambøl verstand besser denn je, warum Benjamin Grinde sich in seiner Kindheit in Schulbüchern vergraben hatte.
Die Mutter hob gerade ihr Glas, als er ins Zimmer kam.
»Noch einmal auf dein Wohl, mein Junge. Wer war das? Noch mehr Gratulanten?«
Ihr Arm mit den vielen Goldbändern fegte über den Tisch, und sie schaute zu den vielen Blumensträußen hinüber, die an diesem Tag gekommen waren.
»Ben, stimmt irgend etwas nicht?«
Jon und Nina, die ihnen den Rücken gekehrt hatten, fuhren herum.
Benjamin Grinde schwankte; sein Gesicht war gräulich-bleich, und seine Augen lagen so tief in ihren Höhlen, daß sie im schwachen Licht aussahen wie Kohlenstücke.
»Mutter! Ich heiße nicht Ben. Ich habe niemals Ben geheißen. Ich heiße Benjamin!« Dann schloß er die Augen und fiel in Ohnmacht.
Sonntag, 6. April 1997
7.30, tief im Waldgebiet Nordmarka bei Oslo
Das Wasser griff nach ihm; es klammerte sich klebrig an seinen Körper und wollte nicht loslassen. Es zwang ihn dazu, mit den Lungenspitzen zu atmen, ein kurzes Keuchen, bei dem seine Haut sich zusammenzog. Das Herz hämmerte hektisch in seinem breiten Brustkorb. Er spürte deutlich, wie das Blut durch seinen Körper strömte, er spürte die pulsierenden, rhythmischen Stöße seines Herzens, die durch die immer feineren Adern in Beinen, Armen und Zehen geleitet wurden, ehe das Blut sich seinen Rückweg bahnte, um neue Kraft, neues Leben zu gewinnen. Er tauchte wieder unter und konzentrierte sich auf seine Schwimmzüge, zähe, lange Züge; er war ein Albatros im Wasser, ein Tigerhai, er bewegte seine Füße blitzschnell und fast wie ein Fisch seine Flossen, und auf diese Weise schoß er hoch über die spiegelblanke graue Wasseroberfläche hinaus.
Er hatte sich niemals lebendiger gefühlt. In einer langen, geschmeidigen Bewegung erreichte er das Land. Breitbeinig stand er auf einem kleinen grauen Felsrücken, glattgeschliffen vor Jahrmillionen in diesem schönen Land, in dem er zu Hause war. Liebevoll ließ er seine Augen über seinen nackten Körper wandern, von den großen, maskulinen Füßen mit den blaßblonden Härchen bis zu den Schultern, die von harter Arbeit und noch härterem Training zeugten. Als er sein halb erigiertes Glied sah, lachte er. Er liebte kaltes Wasser, er badete immer ohne Badehose, was ein Hohn für alle anderen Männer in seinem Bekanntenkreis war. Jetzt aber war er allein.
Ohne sich abzutrocknen – er hatte nicht einmal ein Handtuch bei sich – drehte er sich zum Weiher um. Das Wasser hatte sich hinter ihm wieder geschlossen, und nur hier und da waren kleine Fische unterwegs und brachen den Wasserspiegel in winzigen, perfekt komponierten Ringen.
Der Morgendunst hing zwischen den Bäumen, die noch immer ebenso nackt waren wie er. Verlegen betrachteten sie ihr Spiegelbild im Wasser. An einigen Stellen klammerten sich schmutzige Schneeflecken hartnäckig an Heide und Grasbüschel. Die Luft konnte unmöglich mehr als vier oder fünf Grad kalt sein, sie war feucht und frisch und trug den unverkennbaren Geruch des nahenden Frühlings in sich. Er lächelte und holte durch die Nase tief Luft.
Nie zuvor war er glücklicher gewesen.
Er hatte wirklich nicht an den Mann geglaubt, obwohl er ihm von mehreren Gruppenmitgliedern empfohlen worden war. Er, der Führer, hatte abgelehnt. Der Typ hatte etwas Weiches an sich. Er selber hatte nie mit ihm gesprochen, sondern ihn nur aus der Ferne beobachtet, einen ganzen Tag lang hatte er den nichtsahnenden Wächter aus dem Regierungsgebäude bespitzelt. Das machte sich normalerweise bezahlt. Einen Tag lang einen Menschen zu beobachten konnte ihm
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