Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Dankbarkeit heraus hatte der Chefredakteur ihr gestattet, sich weiterhin mit dem Zusammenhang zwischen dem Mord an Birgitte Volter und Benjamin Grindes Besuch zu befassen. Obwohl er nicht sehr begeistert gewirkt hatte.
»Aus dieser Zitrone können wir nicht mehr Saft herauspressen«, hatte er vorsichtig widersprochen und sich dabei nachdenklich auf die Unterlippe gebissen. »Das war ein schöner Artikel heute, Liten, aber es ist doch ganz offensichtlich, daß die Polizei den Typen nicht mehr verdächtigt. Der hat doch heute morgen schon wieder im Obersten Gericht gesessen.«
»Hör zu, Leif«, hatte Liten Lettvik argumentiert. »Für die Jungs vom Politikressort ist das doch die reinste Goldgrube. Jede Menge Stoff zum Weiterarbeiten.«
»Davon haben sie wirklich schon genug. Es ist noch immer völlig unklar, was wir am Freitag für eine Regierung bekommen. So gut hat sich unser Politikressort seit der Furre-Geschichte nicht mehr amüsiert.«
»Eben. Und worum ging es damals in der Furre-Geschichte vor allem?«
Der Redakteur antwortete nicht, doch seine Aufmerksamkeit war ihr sicher; daß er an seiner abgenutzten Schreibunterlage herumzupfte, war das sicherste Zeichen dafür, daß das Interesse von Chefredakteur Leif Skarre erwacht war.
»Die Kritik hat sich vor allem dagegen gerichtet, daß Berge Furre vom Polizeilichen Überwachungsdienst beobachtet worden war. Und zwar als Mitglied der Kommission, die den Überwachungsdienst überwachen sollte. Als Kommissionsmitglied wäre er eigentlich immun gewesen und damit ihrer Überwachung entzogen. Sofort heulten die Verteidiger des Polizeilichen Überwachungsdienstes los, daß niemand im Staat immun sei. Und jetzt wollten sie ausgerechnet einen Richter beim Obersten Gericht festnehmen. Also ein richtig hohes Tier. Und das ohne juristische Grundlage. Das ist doch eine Menge Stoff. Mehr als genug.«
Der Redakteur schwieg eine Weile, dann nickte er mürrisch in Richtung Tür. Damit hatte er seine Zustimmung erteilt.
Doch viel mehr hatte Liten Lettvik über Benjamin Grinde nicht finden können. Das ging ihr auf, als sie die Mappe über ihn durchblätterte. Kaum jemand schien ihn zu kennen. Nicht einmal die nette und endlos naive Aushilfe im Vorzimmer des Obersten Gerichts, bei der Liten am Freitagnachmittag so erfolgreich gewesen war, hatte ihr helfen können.
»Nein, Richter Grinde führt so gut wie nie Privatgespräche«, hatte sie am anderen Ende der Telefonleitung gezwitschert.
Benjamin Grinde hatte jede Menge Bekannte. Aber offenbar keine Freunde, zumindest nicht in juristischen Kreisen. Die Beschreibungen, die elf unnütze Telefonate ihr eingebracht hatten, waren todlangweilig und absolut unbrauchbar. Benjamin Grinde schien tüchtig, korrekt und fleißig zu sein.
»Hier Vorzimmer von Anwalt Fredriksen.«
Liten Lettvik hatte sich endlich ein Zigarillo angesteckt und blies den Rauch durch die Nase aus, als sie ihren Namen nannte und darum bat, zu Frode Fredriksen durchgestellt zu werden. Gleich darauf hatte sie ihn in der Leitung, Anwalt Fredriksen war keiner, der sich sein verfassungsmäßiges Recht auf freie Meinungsäußerung nehmen ließ.
»Ein juristischer Skandal«, erklärte er bombastisch. Liten Lettvik konnte geradezu hören, wie er sich die Schuppen von den Schultern bürstete, das tat er immer, wenn er eine Aussage betonen wollte. »Ich sag Ihnen eins, Frau Lettvik, wenn die Kommission diesem Fall nicht auf den Grund gehen kann, werde ich persönlich dafür sorgen, daß die Zuständigen zur Verantwortung gezogen werden. Das ist meine Pflicht und Schuldigkeit als Fürsprecher der Schwachen!«
Liten Lettvik unterbrach seine Tirade, noch ehe er bei den »unantastbaren Menschenrechten« angelangt war.
»Aber was ist denn eigentlich so skandalös? Worum geht es genau?«
»Die Behörden verbergen etwas.«
»Ja, das ist mir schon klar. Aber was?«
»Das weiß ich natürlich nicht, aber eins kann ich Ihnen sagen: Eine solche Mauer des Schweigens, wie die unterschiedlichen Instanzen sie um diesen Fall gebaut haben, ist mir noch nie begegnet. Während meiner ganzen Laufbahn nicht. Und die war, in aller Bescheidenheit gesagt, sehr lang. Wie Sie wissen.«
»Was denn für ein Schweigen?«
Liten Lettvik steckte sich mit dem Stummel des alten Zigarillos ein neues an.
»Es sind Krankenberichte verschwunden«, erklärte Anwalt Frode Fredriksen.
»Erst werden mir die Krankenberichte nicht ausgehändigt. Und wenn ich sie dann endlich bekomme sind sie
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