Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
unvollständig. Die Krankenhäuser hierzulande sind der Überwachungsdienst des Gesundheitswesens, das kann ich Ihnen sagen, Frau Lettvik. Nichts als Geheimniskrämerei und Arroganz der Mächtigen. Aber wir lassen uns nicht entmutigen.«
»Sie haben um Aufschub bei der Behandlung der Schmerzensgeldforderungen gebeten.«
»Natürlich. Ich hoffe, die Grinde-Kommission wird neues Licht in den Fall bringen. Und dadurch können sich die fraglichen Summen erhöhen.«
»Aber hören Sie, Anwalt Fredriksen, Sie müssen doch irgendeine Vorstellung davon haben, was da vorgefallen ist, ich meine … Die Kommission soll doch feststellen, was damals passiert ist und ob die zuständigen Stellen die Betroffenen ausreichend informiert haben. Aber ehrlich gesagt, ist das alles doch dreißig Jahre her, kann der Fall denn wirklich noch dermaßen brisant sein? Und warum regen Sie sich so auf, Sie haben Ihren Willen doch durchsetzen können? Die Kommission wurde schließlich eingesetzt, das war doch Ihr Ziel?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte tiefes Schweigen. Liten Lettvik machte einen Lungenzug und hielt den Atem an, während das Nikotin sich in ihrem Blutkreislauf verteilte, ein wunderbares Gefühl.
»Im Jahre 1965 sind achthundert Kinder zuviel gestorben, Frau Lettvik«, hörte sie dann endlich, leise und dramatisch, während im Hintergrund mit Papier geraschelt wurde. »Mindestens achthundert Kinder! 1964 starben hier in Norwegen 1078 Kinder unter einem Jahr. 1966 lag die Zahl bei 976. In den Jahren davor und danach liegen die Zahlen konstant bei etwa tausend und sind bis heute nach und nach auf ungefähr dreihundert gesunken. 1965 dagegen starben 1914 Kleinkinder. Und das kann kein Zufall sein. Doch die Behörden wollen nicht feststellen, woran es liegt. Ein Skandal. Ich wiederhole: Ein wirklicher Skandal!«
Liten Lettvik hatte alles über diesen Fall gelesen. Noch immer hatte Fredriksen ihre Frage nicht beantwortet, und für einen Moment wußte sie nicht, ob sie dieses Gespräch überhaupt noch fortsetzen wollte. Dann wechselte sie plötzlich das Thema.
»Und was ist mit Benjamin Grinde?«
Anwalt Fredriksen lachte laut und polternd.
»Da spinnt ihr doch total. Oder die Polizei. Was sie ja meines Wissens auch zugegeben hat, obwohl ihr die Sache so aufbauscht. Benjamin Grinde ist ein durch und durch integrer Mann. Ein wenig langweilig, ein wenig pompös, aber das bringt sein Amt doch mit sich. Benjamin Grinde ist ein ungewöhnlich begabter Jurist und ein tadelloser Staatsbürger. Ich war sehr zufrieden, als er zum Leiter der Untersuchungskommission ernannt wurde. Ich habe mir damals auch erlaubt, ihm das mitzuteilen. In aller Bescheidenheit.«
Liten Lettvik bedankte sich ohne große Begeisterung für dieses Gespräch. Dann wählte sie noch eine Nummer.
»Edvard Larsen«, meldete sich eine sympathische Stimme.
»Hallo, hier ist Liten Lettvik. Wie geht’s?«
»Ganz gut«, sagte der Pressesprecher des Gesundheitsministeriums ein wenig zaghaft. Liten Lettvik rief zu den unmöglichsten Zeiten an und schien einfach nicht begreifen zu wollen, warum er sie nicht direkt zu Ruth-Dorthe Nordgarden durchstellen konnte. »Womit kann ich dir heute behilflich sein?«
»Hör zu. Ich muß unbedingt mit der Ministerin sprechen.«
»Und worum geht es?«
»Das kann ich dir leider nicht verraten. Aber es ist sehr wichtig.«
Edvard Larsen schwamm normalerweise in einem Ozean aus Geduld, eine unschätzbar wertvolle Eigenschaft für den Pressesprecher eines Ministeriums. Aber jetzt war er kurz vor dem Stranden.
»Du weißt ganz genau, daß ich erfahren muß, worum es geht.«
Er versuchte, seine Irritation durch ein kurzes Lachen zu mildern. Liten Lettvik stöhnte.
»Na gut. Es ist ganz harmlos, aber wichtig. Ich möchte ihr eine Frage über die Arbeit der Grinde-Kommission stellen.«
»Sag mir die Frage, dann sorge ich dafür, daß sie so schnell wie nur irgend möglich beantwortet wird.«
»Nett gemeint, aber nein danke«, sagte Liten Lettvik und knallte den Hörer auf die Gabel.
Aber besonders verärgert war sie nicht. Kein Regierungsmitglied war so leicht zum Sprechen zu bringen wie Ruth-Dorthe Nordgarden. Man mußte ihr vorher nur ausreichend Honig um den Bart streichen. Ein Tauschhandel war nötig. Zerstreut blätterte Liten Lettvik in ihrem Filofax, bis ihre Finger ganz von allein Ruth-Dorthe Nordgardens geheime Privatnummer gefunden hatten.
Es war nur so verdammt ärgerlich, daß sie bis zum Abend warten mußte.
20.50,
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