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Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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unangenehmen Blick unter den Augenbrauen der alten Frau, die zu zwei dünnen Bogen auf ihrer hohen Stirn gezupft waren. »Etwas zu essen lehnen Sie sicher nicht ab.«
    Als sie aus der Küche zurückkam, hielt sie in der einen Hand einen Teller mit Broten, in der anderen eine Plätzchenschale mit hohem Fuß.
    »Ich habe immer auf die schlanke Linie geachtet, wie Sie sehen. Für mich gibt es nur Portwein. So.«
    Sie schenkte sich ein großzügiges Glas ein; die rotbraune Flüssigkeit schwappte fast über. Liten Lettvik nickte kurz und bekam ein halbes Glas.
    »Sie sind ja sicher mit dem Auto gekommen«, erklärte Lerche Grinde. »Greifen Sie zu. Na los!«
    Sie schob der Journalistin die Speisen hin.
    Es sah lecker aus. Liten Lettvik hatte Hunger. Sie hatte immer Hunger. Vor langer Zeit hatte sie in einer populärwissenschaftlichen Zeitung gelesen, daß Hunger das Gewissen ersetzen könne. Sie hatte versucht, den Artikel zu vergessen. Sie nahm sich ein Brot mit Lachs und Rührei und hätte gern gewußt, ob diese seltsame Frau immer solche Leckerbissen in der Küche bereithielt, schließlich war sie nur zehn Minuten dort gewesen.
    Es gefiel ihr nicht, unter dem Adlerblick der Frau auf dem Sofa essen zu müssen, die sie über ihrem Portweinglas aus braunen, intensiven Augen anstarrte, und Liten Lettvik gab auf, als sie das halbe Brot verzehrt hatte.
    »Wie konntet ihr das bloß schreiben?« sagte Lerche Grinde. »Da wußtet ihr doch schon, daß die Anklage ein Fehler gewesen war.«
    »Der Haftbefehl«, korrigierte Liten Lettvik. »Das war ein Haftbefehl. Und wir haben doch geschrieben, daß der nicht haltbar war. In dem Artikel stand die reine Wahrheit.«
    Lerche Grinde machte einen zerstreuten Eindruck. Sie glotzte Liten Lettvik zwar ungeniert an, ihre Gedanken aber schienen sich keineswegs um die Tatsache zu drehen, daß ihr Sohn erst vor wenigen Tagen irrtümlicherweise für einen Mörder gehalten worden war. In ihrem Gesicht zeigte sich ein neuer, seltsamer Zug, eine Mischung aus Belustigung und Verlegenheit, der Liten Lettvik verwirrte.
    »Und inzwischen ist es doch vergessen«, sagte sie. »Alle vergessen so schnell. Das kann ich Ihnen versichern. Aber Sie könnten mir vielleicht ein wenig über Ihren Sohn …«
    Der Blick der anderen war inzwischen unerträglich. Sie starrte Liten an und betupfte sich dabei immer wieder den Mund mit einer Stoffserviette.
    »Stimmt was nicht?«
    »Sie haben Rührei am Kinn«, flüsterte Lerche Grinde und beugte sich über den Couchtisch. »Hier.«
    Sie zeigte auf ihr eigenes Kinn, und Liten Lettvik machte eine blitzschnelle Handbewegung.
    »Sie haben übrigens eine Serviette«, sagte Lerche Grinde pikiert.
    »Danke«, murmelte Liten Lettvik und zog eine Leinenserviette aus einem großen, ziselierten Silberring.
    Liten Lettvik fühlte sich nur selten ausgetrickst. Sie ließ sich von ihrem Aussehen nie beeinträchtigen. Das war ihr egal. Das einzige, was sie beschäftigte und sie bisweilen sogar freute, war die Tatsache, daß sie eigentlich niemanden wirklich liebte; sie interessierte sich nicht einmal besonders für andere Menschen. Ihr Anliegen, ihr Kreuzzug, ihr großes Projekt war die Wahrheit. Die Wahrheit war wie eine Besessenheit, und sie lachte höhnisch über die blödsinnigen Versuche anderer Presseleute, die Grundsatzdiskussionen über journalistische Ethik zu führen. Nur zweimal in ihrer langen, erfolgreichen Karriere hatte sie Dinge drucken lassen, die sich als unrichtig erwiesen hatten. Das war hart für sie gewesen und hatte ihr noch Monate später zu schaffen gemacht.
    Die Wahrheit konnte niemals unmoralisch sein. Wie man sie ermittelte und welche Folgen das für andere Menschen hatte, war von zweitrangiger Bedeutung. Es spielte keine Rolle, ob sie zu Lüge und Unmoral griff, um die Wahrheit herauszufinden. Die Wahrheit hatte nur eine Seite: die objektive. Wenn jedes Wort in einem ihrer Artikel richtig war, dann war der Artikel damit legitim.
    Die Gewißheit über ihre eigene ewige Wahrheitssuche machte sie unverwundbar. Aber in diesem Moment, vor dieser Hexe von Frau, vor diesem kleinen, eitlen, lächerlichen Eichhörnchen, das auf der anderen Seite des schweren Mahagonitisches seine Schnurrhaare bewegte, gerade jetzt empfand Liten Lettvik einen ungewohnten Anflug von Unsicherheit.
    Ihr schauderte, und sie ließ sich in den Sessel zurücksinken, um ihren Bauch einziehen zu können.
    »Ich dachte nur, Sie könnten mir vielleicht etwas über Ihren Sohn erzählen«,

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