Im Zeichen des Schicksals
aus mit Lügen.
Meine nächste Lüge wurde eine Woche, nachdem die Leute von der Fürsorge mich bei meinen Pflegeeltern untergebracht hatten, fällig: bei Janet und Randy Billington aus der Sunnyville Street 2241 in Boston. Mrs. Billington hatte mir eingeschärft, diese Lüge zu erzählen.
»Jetzt hör mal zu, Sarah«, sagte sie, »du wirst denen von der Fürsorge sagen, dass es dir hier gefällt. Du sagst, dass du hierbleiben willst, oder es wird dir noch leidtun. Verstehst du mich?«
Natürlich verstand ich sie. Ich war inzwischen neun Jahre alt. Ich verstand, dass Janet Billington mit ihrem kurzen Stachelhaar, dem hässlichen Muttermal seitlich am Hals und ihrer großen Hakennase mich niemals lieben würde. In ihren stark geschminkten Augen war ich nichts als eine Dienerin und ein monatlicher Scheck vom großartigen Staat Massachusetts. Ich verstand auch, dass Randy Billington mit seinem nach Bier riechenden Schnurrbart, den schwieligen Händen und dem langen, fettigen Haar mir niemals ein Vater sein würde. Vor allem verstand ich die Drohung in den Gesichtern der Billingtons, wenn jemand von der Fürsorge ins Haus kam, um mich zu fragen, wie es mir bei meiner Pflegefamilie gefalle.
»Es gefällt mir hier«, sagte ich. Ich muss von Anfang an eine gute Lügnerin gewesen sein, denn die Sozialarbeiterin glaubte mir, und drei Monate lang kam niemand mehr, um nach mir zu sehen.
Früher habe ich nur mit Bitterkeit an meine Zeit bei den Billingtons zurückgedacht. Ich gab der Fürsorge die Schuld, weil niemand die blauen Flecken an meinen Armen bemerkte, wenn sie nach mir sahen. Eine Zeitlang gab ich auch dem Waisenhaus die Schuld, weil sie mich weggegeben hatten. Und manchmal, wenn die Billingtons sich betranken und ich mich in meinem Zimmer einschließen musste, um ihren wütenden Fäusten zu entgehen, machte ich jener Frau mit dem Umhang Vorwürfe, weil sie mich einfach am eisernen Tor des Waisenhauses von Somerville verlassen hatte. Aber diese Bitterkeit war nicht von Dauer. Selbstmitleid nutzte niemandem etwas.
Ich betrachte meine vier Jahre bei den Billingtons gerne als Lehrjahre.
Der normale Tag im Hause Billington begann bei Sonnenaufgang, wenn ich, von Randys und Janets Schnarchen untermalt, das Frühstück zubereitete. Ein Omelett aus drei Eiern mit Pilzen und Zwiebeln für seine Lordschaft und Buttermilchpfannkuchen mit Erdbeersoße für die Königin. Ich brauchte mehrere Wochen, um das Frühstücksmahl zu perfektionieren. Randy hatte seine Eier nicht gern wässrig, und er gab es mir mit dem Handrücken zu verstehen. Ich lernte, dass gegarte Pilze eine Menge Wasser abgeben und dass ich sie zuerst braten und die Flüssigkeit dann weggießen musste, bevor ich die Eier hinzufügte. Die Omeletts bekam ich relativ schnell richtig hin, doch die Pfannkuchen zu perfektionieren war schwieriger.
Janet war sehr eigen, was ihre Pfannkuchen betraf, und mit der dazugehörigen Erdbeersoße nahm sie es noch genauer. Als Zeichen, dass sie mit ihrem Mahl nicht zufrieden war, pflegte sie das Gesicht zu verziehen und ihren Teller wegzuschieben. Aber sie sagte mir nie, was genau sie daran auszusetzen hatte. Das Schlimmste war, dass sie mich, im Gegensatz zu Randy, nicht schlug. Nachdem sie mir diese säuerliche Miene präsentiert hatte, rief sie stattdessen für gewöhnlich in meiner Schule an und erzählte, ich sei krank.
Und wenn ich protestierte, pflegte sie zu erwidern: »Es hat wohl keinen Sinn, Mathe zu lernen, wenn du nicht mal Frühstück machen kannst, oder?« Das war so ihr Sinn für Humor.
Irgendwann bekam ich die Sache mit dem Frühstück in den Griff und machte alles genau so, wie die Billingtons es wollten. Dann war es Zeit fürs Putzen. Randy trank abends gern vorm Fernseher sein Bier. Er hatte außerdem die Angewohnheit, seine schmutzigen Schuhe anzubehalten, wenn er von seiner Arbeit auf der Baustelle nach Hause kam. Ich musste seinen Saustall wegmachen, bevor Janet es sah. Sie konnte den Anblick von verschüttetem Bier und Dreck nicht leiden. Sie spielte gern die gute Hausfrau. Und ihr Ehemann war natürlich ein Heiliger, also war es immer meine Schuld, wenn Randy für Unordnung sorgte.
Wenn ich Randys Hinterlassenschaften weggeräumt hatte, musste ich mich um die Wäsche kümmern. Die Billingtons waren zu knauserig, um eine Waschmaschine zu kaufen.
»Die Dinger fressen Strom wie verdammte Elektrizitätsmonster!«, sagte Randy immer.
Ich hatte keine Ahnung, was ein »Elektrizitätsmonster« sein
Weitere Kostenlose Bücher