Im Zeichen des Schicksals
Alles im Raum wurde plötzlich totenstill.
»Als Direktor dieser wunderbaren Lehranstalt ist es mir eine Freude, euch alle zu einem neuen Schuljahr willkommen zu heißen, zu einer neuen Gelegenheit, Wissen in euch aufzunehmen und euch selbst zu beweisen.«
Die Rede nahm ihren Lauf, und nach etwa zehn Minuten begann ich, meinen Blick umherschweifen zu lassen. Links von mir konnte ich erkennen, dass Melissa an ihrem Beweis arbeitete. Irgendwann in den nächsten Tagen wollte ich sie einmal fragen, was sie da zu beweisen versuchte – auch wenn ich es nicht verstand, selbst wenn sie es erklärte. Die acht rechteckigen Bleiglasfenster in den Wänden des großen Saals zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren in leuchtendem Orange, Gelb und Grün gehalten und schienen jedes ein anderes Schulfach zu repräsentieren: eine Schreibfeder für Literatur, ein Winkelmesser für Mathematik, eine Doppelhelix für die Naturwissenschaften, eine Landkarte für Erdkunde, eine Harfe für Musik und ein Rugbyball, der vielleicht für den Sportunterricht im Allgemeinen oder einfach nur für das Rugbyteam stand. Die beiden letzten Fensterbilder waren etwas schwerer zu deuten. Das eine zeigte eine Nachahmung von Rodins Skulptur Der Denker , was für Philosophie stehen musste, da das andere zwei gekreuzte Farbpinsel zeigte, die wohl das Fach Kunst repräsentierten.
Während ich die Symbole betrachtete, musste ich an das Schutzsymbol denken, das ich am Abend zuvor auf der Tür von Roberts Arbeitszimmer gesehen hatte. Nach diesem ersten Fund hatte ich das Symbol auch auf den anderen Türen im Haus entdeckt. Die Symbole waren klein, deshalb waren sie mir bisher nicht aufgefallen, aber sobald ich gezielt nach ihnen suchte, waren sie sehr leicht zu entdecken gewesen. Manchmal auf den Türknäufen, manchmal in andere Teile der Türen geritzt. Das Ganze war mehr als nur seltsam. Wer konnte diese Symbole ins Holz geschnitzt haben? Und warum?
»Und jetzt möchte ich unsere Schülersprecherin Miss Sandra Witherspoon auf der Bühne willkommen heißen.«
Reihe sechs stand auf, um Sandra durchzulassen. Applaus erfüllte den Saal.
»Versuch mal zu zählen, wie oft sie ›ich als eure Schülersprecherin‹ sagt. Ich habe sie nie eine Rede halten hören, ohne dass sie den ganzen Saal mindestens fünfmal an ihre Stellung erinnert hätte«, brummte Melissa neben mir. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Arbeit an ihrem Beweis.
Ich hörte bis zum vierten ›ich als eure Schülersprecherin‹ zu, dann zog ich die Karten aus der Tasche meiner Schuluniformjacke. Sandras Rede war noch langweiliger als die des Direktors, was eine beträchtliche Leistung darstellte. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und mischte. Das Buch, das Melissa mir geschenkt hatte, enthielt einige tolle Legemuster für Kartendeutungen, die ich zuvor noch nicht gekannt hatte: den Stern , den Fächer , das Keltische Kreuz und den Zauberspruch der Zigeuner . Es war ein Jammer, dass ich mir selbst die Karten nicht legen konnte. Das hätte vielleicht erklärt, was um alles in der Welt ich hier sollte.
Ich dachte an den Talisman auf Roberts Tür und teilte die Karten. Obenauf Der Ritter der Kelche . Na toll. Die Karten blieben sich treu und waren wie immer wenig hilfreich. Erneut brauste stürmischer Applaus auf, und Sandra verließ das Podium, um wieder ihren Platz einzunehmen. Ich mischte abermals und teilte die Karten per Zufallsprinzip: Der Ritter der Kelche. Wieder nichts. Sie gaben nichts Neues preis. Nicht, dass ich es erwartet hätte. Jetzt war der Direktor zurück am Mikrofon.
»Damit beschließen wir die heutige Zusammenkunft. Begebt euch bitte schnell und leise in eure Klassenzimmer. Ich wünsche euch einen Tag, der euch erleuchtet.«
Ich hätte wirklich eine Erleuchtung gebrauchen können. Erleichtert, dass die Versammlung endlich vorbei war, steckte ich die Karten zurück in meine Tasche und wollte mich gerade an der Rückenlehne der Bank vor mir hochziehen.
Ein Flur. Vertraut wirkende Treppen, ein Klassenzimmer mit langen Tischen, Flaschen, beschrifteten Reagenzgläsern, Bunsenbrennern … der Chemiesaal? Wer steht da im Zentrum meiner Aufmerksamkeit? Ein Junge mit kurzem dunklem Haar, der mit einem roten Gummiband spielt. Bilder blitzen auf, verändern sich, konzentrieren sich auf … War das Nick? Ja, Nick und Josh, sie beugen sich über einen Brenner mit einem Reagenzglas, am Tisch neben dem dunkelhaarigen Jungen. Und dann … Mein Gott! Schaudernd schrecke
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