Im Zeichen des Schicksals
ein großes Missverständnis«, sagte ich hastig. »Geh jetzt besser, sonst kommst du noch zu spät.«
Stirnrunzelnd nickte Josh. »Bring dich nur bitte nicht in Schwierigkeiten, während ich fort bin, ja? Ich werde nicht lange weg sein.«
Ich winkte nur kurz und verzichtete auf eine Antwort. Normalerweise wäre seine Bemerkung einfach nur lächerlich gewesen – in welche Schwierigkeiten konnte ich mich hier im Haus schon bringen? Aber angesichts meiner jüngsten Leistungsbilanz konnte ich es ihm nicht verübeln. Das Haus versank in Stille, sobald der Wagen davongefahren war.
»Dann mache ich mich am besten erst mal an die Hausaufgaben.«
Ich ging in die Küche zurück, öffnete meine Schultasche und nahm mein Philosophiebuch heraus. Nach nur wenigen Tagen in der Schule wollte der Lehrer bereits einen Aufsatz von zweitausendfünfhundert Wörtern zum Thema »Wie entscheidet man, was moralisch richtig und was falsch ist?«. Mr. Delaware suchte vermutlich nach absolut gültigen Kriterien. So etwas wie: Es ist falsch zu stehlen . Es ist falsch zu lügen . Aber dem würde ich nicht zustimmen können. Ist es falsch, Brot zu stehlen, wenn man hungert? Ist es falsch zu lügen, wenn jemand das eigene Leben bedroht? So vieles hing einfach von der jeweiligen Situation ab. Es war nicht so, dass ich Josh gerne belog, aber wie sonst sollte ich dafür sorgen, dass ihm nichts passierte?
Ich schob das Philosophiebuch beiseite, ging wieder in den Flur und steuerte auf die Treppe zu, als ich einen schwachen Lichtschimmer bemerkte, der aus Roberts Arbeitszimmer drang. Ich trat näher an die Tür heran und sah, dass sie einen schmalen Spaltbreit offen stand. Marie musste vergessen haben abzuschließen, nachdem sie geputzt hatte.
Mir juckte es in den Fingern, die Tür aufzustoßen.
»Es ist dann nicht falsch, wenn sich dort drin irgendein Hinweis finden ließe, der beim Schutz von Josh hilfreich sein könnte«, sagte ich zu niemand Bestimmtem. Die Arbeitszimmertür schien von meiner Logik unbeeindruckt. Sie ragte einfach nur in ihrer gewohnten Dunkelheit und mit dem geschnitzten Symbol im Griff vor mir auf. »Eines Tages werde ich wohl aufhören müssen, Selbstgespräche zu führen.« Aber nicht heute. »Okay, Robert Beaumont. Was versteckst du da drin?«
Mit einem langsamen, ohrenbetäubenden Knarren schwang die hölzerne Tür auf.
Mäßigkeit
Meine Augen brannten, als ich meine Tasche ins Schließfach stopfte. Ich hatte kein Auge zutun können, bis ich Josh gegen zwei Uhr morgens nach Hause zurückkommen hörte. Und selbst danach war ich jede Stunde aufgewacht, bis ich gegen halb fünf den Versuch zu schlafen endgültig aufgegeben hatte.
Aber nicht das Alleinsein hatte mich wach gehalten. Sondern das, was ich in Roberts Arbeitszimmer gefunden hatte.
Zuerst hatte alles sehr normal gewirkt. Ein klotziger Schreibtisch, ein Briefbeschwerer aus Kristall, eine Lampe und Regale voller Bücher von einer Wand zur anderen. Es war überhaupt nichts Ungewöhnliches an dem Raum, genau wie Marie am Tag meiner Ankunft gesagt hatte. Doch dann hatte ich einige Bücher aus Roberts Sammlung herausgenommen und dabei sogleich festgestellt, dass die Schutzumschläge mehrerer Bände vertauscht worden waren. Ich hatte über eine Stunde stöbern müssen, aber in dieser Zeit fand ich genau achtzehn Bücher mit vertauschten Umschlägen, und alle behandelten sie das gleiche Thema: das Übernatürliche. Hexen. Werwölfe. Vampire. Dschinn .
»Hey.« Melissa hatte sich gegen die Schließfächer gelehnt und sah mich an. »Bereit für einen herrlichen neuen Schultag?«
»Eigentlich nicht«, gestand ich, schloss die Schließfachtür und legte den Finger zum Verriegeln auf den Touchscreen. Ich konnte einfach das Gefühl von Nervosität nicht abschütteln, das mir im Magen lag, seit ich in der vergangenen Nacht in Robert Beaumonts Arbeitszimmer gestanden und in einem Buch über Dschinn gelesen hatte. Es war offensichtlich, dass er geradezu besessen von der Beschäftigung mit dem Übernatürlichen war. Das allein wäre noch nicht so ungewöhnlich gewesen, wenn er nicht versucht hätte, die Bücher unter anderen Schutzumschlägen zu verstecken. Und natürlich waren da auch die Schnitzereien an den Türen … wenn das ebenfalls Roberts Werk war, dann musste er wirklich an alledem sehr interessiert sein. Hatte er womöglich versucht, einen Dschinn zu beschwören? Wenn ja, dann war es nicht unwahrscheinlich, dass er tatsächlich der Besessene war. Aber soviel
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