Im Zeichen des Schicksals
scheint dein Selbsterhaltungsdrang ohnehin nicht sonderlich ausgeprägt. Zuerst war da dieser Dieb, und erst gestern musste ich erleben, wie du in einen Raum mit einem Gasleck hineingestürmt bist.«
Schuldgefühle stiegen in mir auf, als ich mich an mein Benehmen hinterher in der Mensa erinnerte. »Das mit gestern tut mir wirklich leid, die Sache in der Mensa. Ich habe total überreagiert, und ich …«
»Hör auf«, unterbrach Ian. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Celine. Ich weiß es.«
»Du weißt was?« Ich verstand gar nichts mehr. Wovon redete er?
»Frag mich das nicht – es sei denn, du willst es wirklich hören.« Er wurde reglos und sah mich an, als wolle er, dass ich etwas verstehe … irgendetwas.
»Was soll ich hören wollen?«
»Dass du eine Lügnerin bist.«
Ich erstarrte. Er sagte das einfach so, ohne Veränderung des Tonfalls, als führe er lediglich eine Tatsache an. Wenn er mich beschuldigt hätte, hätte ich mich vielleicht wehren, mich verteidigen können, hätte ihn einen Lügner nennen können … Oder vielleicht auch, wenn er einen anderen Moment gewählt hätte, um das zu sagen. Einen Moment, in dem ich mich nicht vergeblich damit abmühte, mit willkürlich auftauchenden Visionen klarzukommen oder mit Onkeln, die sich obsessiv mit Dschinn befassten … dann hätte ich mich vielleicht verteidigen können. Aber er sagte es jetzt, und da lag keine Frage in seiner Feststellung. Er wusste es. Er wusste es. Aber wie viel wusste er?
»W…was meinst du damit?«
Ian fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wirkte frustriert. »Hör mal, ich wusste schon am Tag, als ich dich kennengelernt habe, dass du etwas verbirgst. Ich wusste nur nicht, was – bis gestern in der Mensa.«
Er bückte sich und zog mich hoch, und wir waren plötzlich allzu nah beieinander. Ich wartete und versuchte vorauszusehen, was er als Nächstes tun würde, worauf er hinauswollte. Aber er stand einfach nur da, sah mich an und schwieg. Sekunden verstrichen mit unendlicher Langsamkeit, der leichte Wind wehte mir den Duft von frisch gemähtem Gras in die Nase – und den von Ian. Die Sonne schien auf sein pechschwarzes Haar, seine Augenbrauen und die Wimpern, die über seine dunkelblauen Augen wachten. Die Gefahr war Millionen Meilen weit weg. Alles schien ruhig, angenehm … einfach.
Und dann hob Ian die Hand, und ich zuckte zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Behutsam zog er mich wieder heran. Seine Stimme war sanft, als er weitersprach.
»Du kannst dich an dein früheres Leben erinnern.« Da war keine Verurteilung, kein Zorn, nichts als die Wahrheit in seiner Stimme. »Und in diesem früheren Leben hat dir jemand wehgetan. Deshalb hast du Angst vor Berührung, deshalb wirst du wütend, wenn du dich fürchtest, und deshalb weinst du nie, nicht einmal, wenn dich ein Dieb vermöbelt … weil du Schlimmeres erlebt hast.«
Er hatte eins und eins richtig zusammengezählt. Die dunkle Seitenstraße, die Mensa … und er hatte recht. Ich hatte Schlimmeres erlebt. Sehr viel Schlimmeres. Mein Rücken war starr und steif. Mein ganzer Körper fühlte sich an, als sei er am Boden festgeklebt, und ich konnte nur noch eines denken: Ian weiß es . Der erste Mensch auf der Welt, der weiß, was ich durchgemacht habe … der die Wahrheit weiß. Ich hätte völlig geschockt sein sollen, aber ich war es nicht. Warum nicht?
»Was ist mit dir passiert?«, fragte Ian nach einem weiteren Moment des Schweigens. Wortlos hielt er den Blick auf mich gerichtet, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Ich schaute stattdessen über seine Schulter, über die Tribünen hin zur Schule und hinauf in den wolkenlosen Himmel. Ich verspürte Erleichterung. Eine gewaltige Erleichterung, als sei mir ein Gewicht von den Schultern genommen worden. Ein einsamer Vogel kreiste langsam über uns. Ich war es leid, allein zu sein. Zu versuchen, alles selbst hinzukriegen. Ich war es leid, mich vor der Welt zu verstecken. »Ich habe noch nie jemandem vertraut.«
Er trat einen Schritt zurück, und ich bemerkte mit einer gewissen Überraschung, dass er mich die ganze Zeit über weiter festgehalten hatte. »Mir kannst du vertrauen.«
Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Er hatte mir immer geholfen, und das, obwohl er von Anfang an den Verdacht gehabt hatte, dass ich ihm sehr viel verheimlichte. Der Drang war stark, ihm alles zu erzählen. Aber er wusste bereits jetzt mehr als alle anderen. Er wusste, dass ich eine Lügnerin war.
»Erzähl
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