Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
wir es nicht wieder auswildern können. Das liegt nicht in meiner Macht, Kara. Viele gestrandete Wale und Delfine sterben oder müssen getötet werden. Das ist keine leichte Entscheidung, aber so ist es nun mal.«
Ich funkle ihn zornig an. »Dann lass mich das Kälbchen wenigstens sehen.«
»Das kann ich nicht, Kara«, sagt er, »tut mir leid, das kann ich einfach nicht.«
Er drückt meine Schulter, aber ich wende mich ab, stürme über den Parkplatz davon und kauere mich hinter eine Steinmauer, dorthin, wo mich niemand sieht.
Daisy rutscht zu mir herunter und legt die Arme um mich. »Was wirst du denn jetzt tun?«
Ich verberge mein Gesicht in den Händen und schüttle den Kopf. »Ich weiß es nicht, Daisy«, sage ich, »ich weiß es einfach nicht.« Ich fühle mich so hilflos.
Eine Dohle stolziert neben uns auf und ab und fixiert mit ihren wachsamen blauen Augen ein Stück Brotrinde, das neben meinen Füßen liegt. Ich hebe es auf und knete es zwischen Finger und Daumen zu einer kleinen Teigkugel. »Wenn doch Mum da wäre«, seufze ich. »Sie würde mir sagen, was zu tun ist.«
Die Dohle hüpft nach vorn. Sie dreht ihr Köpfchen von einer Seite zur anderen und beobachtet mich dabei die ganze Zeit.
Ich halte ihr das Brot mit der flachen Hand entgegen.
Ob sie es wohl riskiert, mir zu vertrauen?
Daisy legt ihre Hand in meine. »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie zu fragen.«
Ich wende mich Daisy zu und nicke.
Genau das habe ich eben auch gedacht.
Kapitel 21
Ich renne mit Daisy die Strandpromenade entlang und umklammere mit der Hand den einzigen Gegenstand, den ich von Mum besitze: einen kleinen blauen Memorystick in Form eines Delfins. Mum hatte ihn von einer Konferenz über den Schutz des Meereslebens mitgebracht und ich wollte ihn immer für mich haben. Am Tag bevor sie ging, habe ich den Stick aus ihrem Zimmer entwendet, nur weil er mir gefiel. Ich habe es ihr nie gesagt und ich fühle mich immer noch schuldig. Nachdem Mum verschwunden war, habe ich ihn auf eine Muschelkette gefädelt. Jetzt hängt der Memorystick unter der schneeweißen Kaurimuschel. Die anderen Muscheln sind die Gehäuse von Kreiselschnecken, von denen die purpurnen Streifen abgescheuert sind und der Perlmuttglanz darunter zum Vorschein kommt. Jeweils dazwischen hängt das sonnengelbe Gehäuse einer Strandschnecke. Das ist alles, was ich von ihr habe. Sie hat Dinge nie behalten. Sie hat von Dad nicht einmal einen Ehering gewollt. Sie hatte ihre Tauchausrüstung und eine Kamera – und das war alles. Selbst der Computer gehörte nicht ihr, sondern dem Forschungszentrum.Der einzige Gegenstand, den sie wie ihren Augapfel hütete, das war ihr alter ramponierter grüner Rucksack. Die Risse waren mit verschiedenen Stoffresten aus verschiedenen Ländern geflickt. Sie sagte immer, jeder Flicken würde eine andere Geschichte erzählen. Aber dieser Rucksack ist jetzt nicht mehr da, denn sie hat ihn mitgenommen.
Ich weiß, dass mir nicht viel Zeit bleibt. Tante Bev hat mir Geld gegeben, damit ich Fish and Chips fürs Abendessen mitbringen kann. Sie erwartet uns in einer halben Stunde zurück. Ich lasse Daisy in der Warteschlange stehen. Die Schlange ist lang, geht sogar um die Ecke und ein Stück die Hafenstraße entlang. Das verschafft mir wenigstens ein bisschen Zeit. Hinter dem Marineladen jogge ich den steilen Hügel hoch auf die andere Seite des Ortes. Die Beine tun mir weh und ich kriege Seitenstechen, aber ich halte erst an, als ich die Reihe weiß getünchter Cottages erreicht habe, von denen man aufs Meer blicken kann.
Miss Penlunas Häuschen steht am Ende eines geschotterten Wegs. Als ich an den anderen Eingängen vorbeigehe, knirschen die Steinchen unter meinen Füßen. In den Vorgärtchen liegen Eimer und Schaufeln und Surfbretter herum. Auf den verschieferten Fenstersimsen stehen Blumenkästen voller Geranien. Diese Cottages sind längst nicht mehr richtig bewohnt. Das sind jetzt Ferienhäuser für Touristen.
Alle außer einem verblassten, weißgrauen Häuschen, in dem Miss Penluna lebt. Unter der abblätternden Farbe sind die Steine ausgetrocknet und brüchig. Die Vorhänge hinterden Fenstern sind zugezogen. Vor dem Cottage steht, mitten im Gestrüpp aus Gräsern und Unkraut, ein einsames Vogelhäuschen, gefüllt mit Vogelfutter. Das ist der einzige Hinweis darauf, dass hier überhaupt jemand wohnt.
Ich stehe vor der Tür. Mein Herz klopft und ich spüre, wie das Blut in mir pulst. Den Memorystick halte ich fest in der
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