Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
innerlich fühle ich mich zerrisssen. Ich weiß, dass ich sie vielleicht nie mehr wiedersehe, wenn sie erst einmal verschwunden ist.
»Wann?«, frage ich.
»Morgen«, sagt Carl, »morgen in aller Frühe lassen wir sie am Strand frei.«
Kapitel 29
Ich bin die Erste am Strand. Ich schlinge die Arme um mich und wünsche mir sehnlichst, ich hätte meine Jacke mitgebracht. Die Milchstraße zieht sich wie ein Fluss von Sternen über das Himmelszelt. Ich erinnere mich daran, dass Mum mir die Maorigeschichte von Tama-rereti erzählt hat, wie er winzige Steinchen am Himmel verstreute, damit sie seinen Weg erleuchteten, und wie der Himmelsgott Tama-reretis Kanu als Milchstraße an den Himmel stellte, um zu zeigen, wie all die Sterne erschaffen wurden. Ich grabe meine Zehen in den kalten Sand und lausche dem Takt der Meeresbrandung. Ich möchte die Delfinmutter sehen und spitze die Ohren. Vielleicht höre ich das Geräusch, wenn sie da draußen auf dem Meer ihr Blasloch öffnet.
»Kara, bist du das?«
Ich drehe mich um.
Dad kommt auf mich zu. Seine Gestalt zeichnet sich als Silhouette gegen das Licht der Straßenlampen ab. »Ich hab gehört, wie du das Haus verlassen hast. Was tust du hier draußen?«
»Carl lässt Angel heute ganz früh am Morgen frei.« Ich kann nicht verhindern, dass meine Zähne klappern. Von der Küste her bläst ein kühler Wind.
Dad zieht seine Fleecejacke aus und streift sie mir über. Die Ärmel sind viel zu lang und die Jacke geht mir bis fast zu den Knien. Dad drückt mich fest an sich. Die Morgendämmerung breitet sich über dem östlichen Himmel aus, ein bleicher Streifen Helligkeit, der langsam das Licht der Sterne auslöscht. Eine Schar Sanderlinge flattert im Tiefflug über den Strand hinweg und lässt sich weiter oben an der Küste nieder.
»Da kommt Carl«, sagt Dad.
Ein Pick-up fährt in unsere Richtung. Seine Scheinwerfer spiegeln sich im nassen Sand.
»Hoffentlich sind Felix und sein Dad rechtzeitig hier«, sage ich.
Der Transporter hält neben uns. Carl und Greg springen heraus, gefolgt von Mr Andersen und Sam. Ich lehne mich über die Ladekante des Pick-ups. Felix sitzt an Angels Kopf. Der Delfin ist in nasse Tücher gehüllt und liegt auf dem gelben Rettungsfloß.
Carl sucht das Wasser ab. »Irgendein Lebenszeichen von der Delfinmutter?«
Ich schüttle den Kopf. »Hoffentlich wartet sie nicht am Bassin.«
Dad und ich packen das Floß vorne an einer Ecke. Alle zusammen schaffen wir es, Angel auf den Boden zu hieven.
Sie ist schwer – eine geballte Masse aus Knochen und Muskeln. Als wir sie zum Wasser tragen, lege ich die Hand auf ihren Kopf. Sie atmet kurz und flach und ihre Augen sind weit geöffnet.
»Nicht zu tief«, sagt Carl. »Warten wir erst, bis sie sich ans Wasser gewöhnt hat. Wir wollen nicht, dass sie zu früh davonschwimmt.«
Wir lassen das Floß in die Wellen gleiten, bis wir hüfthoch im Wasser stehen. Die Wellen brechen sich weiter draußen und schwappen an den Strand. Angel ist eigentümlich ruhig, als würde auch sie warten. Ich spüre, wie ihre Klicklaute und Pfeiftöne durch meinen Körper dringen – unhörbare Schallimpulse, die sich in den dunklen Gewässern der Bucht ausbreiten.
Jetzt taucht der Kranz der Sonne über den Hügeln hinter uns auf und verwandelt die Oberfläche des Meeres in flüssiges Gold.
Ich fühle, wie sich Angels Körper anspannt. Der Delfin verhält sich ganz still und lauscht.
Vielleicht kann auch ich die Schwingungen der Pfeiftöne spüren, die durchs Wasser dringen, weil ich ahne, dass Angels Mutter in der Nähe ist.
»Pffwuuuusch!« Sie taucht dicht neben uns auf.
»Nimm dich vor ihr in Acht!«, ruft Carl. »Wenn sie zu ihrem Kalb will, könnte sie aggressiv werden.«
Angel schlägt mit der Schwanzflosse und will unbedingt losschwimmen.
Carl und Greg lassen aus den beiden Gummischläuchen des Floßes die Luft ab und ziehen es unter ihr weg. Als Angel vorwärtsdrängt, um zu ihrer Mutter zu schwimmen, lasse ich die Hände ein letztes Mal über ihren Rücken gleiten. Dann schwimmen die beiden Delfine nebeneinander, ihre Körper berühren sich und tauchen Seite an Seite in die Fluten des Meeres.
Zwei Wasserfontänen steigen in die kühle Luft der Morgendämmerung.
Ich blicke auf die Stelle, an der die Tiere eben noch waren. Tief in mir breitet sich eine eigenartige Leere aus.
Nicht wegen dem, was ich verloren habe.
Sondern wegen meiner Hoffnung darauf, was noch kommen könnte.
Kapitel 30
Carl bietet an, uns in
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