Im Zweifel suedwaerts
ist?«
»Und was genau ist Lucy passiert? Das weißt du doch gar nicht.« Betty stemmte die Hände in die Seiten, während ich nach der Taschenlampe suchte. »Schätzelein, mal ehrlich, du bist ein Feigling, das wissen wir beide. Du kommst genau drei Meter weit, dann kannst du dich vor Angst nicht mehr bewegen. Oder du kletterst aus lauter Panik auf einen Baum. Oder du machst dir wieder in die Hose wie in Arcachon …«
»Fast«, korrigierte ich sie und drängelte mich an ihr vorbei zur Bustür. »Ich habe mir in Arcachon fast in die Hose gemacht.«
»Gut. Dann fängst du eben an zu heulen. Wie immer.«
»Ach ja?« Ich knipste die Taschenlampe an und stieg aus. »Dann schau jetzt mal zu, wie ich nicht anfange zu heulen.« Ich ging eine Proberunde um den Bus, ließ den Schein der Taschenlampe über die Straße und die Büsche an den Hängen links und rechts der Straße wandern und kam wieder vor der Schiebetür an. Stolz stemmte ich die Hände in die Seiten. »Und?«
»Wow«, sagte Betty trocken.
Ich hätte darauf am liebsten mit irgendeinem scharfsinnigen Spruch geantwortet, aber auf die Schnelle fiel mir nichts ein, und überhaupt war Lucy zu finden jetzt wichtiger als mein Stolz. Ich atmete noch einmal tief durch, um gegen das mulmige Gefühl in meinem Bauch anzukämpfen, und entschloss mich, bergauf in Fahrtrichtung des Busses zu gehen. Zaghaft rief ich Lucys Namen, dann wiederholte ich ihn etwas lauter, aber es machte keinen Unterschied. Die Nacht blieb bis auf das Rauschen des Windes in den Bäumen, das Zirpen von Grillen und das Rascheln von kleinen Tieren im Gebüsch still. Genau genommen waren das natürlich eine Menge Geräusche, aber das eine, auf das ich so dringend hoffte, kam nicht. Keine Antwort von Lucy. Ich ging einige Meter weiter. Noch immer nichts. Also wanderte ich zurück zum Bus und sah Betty, die an der offenen Schiebetür lehnte und rauchte, fragend an. »Und?«
»Du warst genau eine Minute unterwegs, was denkst du denn?«
»Sie ist nicht wieder aufgetaucht?«
Betty seufzte.
Das hieß dann wohl Nein. Ich zuckte mit den Schultern und ging hangabwärts weiter in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Es kam mir vor, als wäre die Dunkelheit etwas, das man greifen konnte, das über mir lag, wie eine Decke. Das Licht der Taschenlampe machte alles nur noch unheimlicher, wenn es links und rechts und vor mir stellenweise den Asphalt der Straße sichtbar machte, einen Busch am Straßenrand oder einen Kilometerstein. Ich rief wieder Lucys Namen, und wenn sie sich nicht unterdessen in ein Käuzchen verwandelt hatte, dann war auch dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt. Keine Antwort. Keine Lucy. Ich drehte mich um und leuchtete zum Bus zurück. Solange ich ihn in Sichtweite hatte, konnte ich weitergehen, so lange war ich sicher. Redete ich mir ein. Und versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken, was unserer kleinen, dicken Freundin wohl zugestoßen war. Ob ein wildes Tier sie angefallen hatte, ein Wolf, ein Bär oder eine Bergziege. Oder ob ein geisteskranker Höhlenbewohner sie überfallen und verschleppt hatte. Vielleicht war sie in eine Schlucht gestürzt. Oder tatsächlich in ein Käuzchen verwandelt worden.
Ich drehte mich wieder um. Der Bus war in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen. Mir wurde klar, dass es sehr gut möglich war, dass ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, mitten in dem lehrbuchhaften Auftakt zu einem dieser astreinen Splatter-Horror-Filme steckte. Der Plot: Drei Mädchen bleiben irgendwo im Nirgendwo mit ihrem Auto beziehungsweise Bus liegen, eins nach dem anderen verschwindet, und schließlich sind alle wieder vereint. Im Folterkeller eines irren Einsiedlers, der sie über kurz oder lang aufessen wird, aber erst nachdem er unbeschreiblich schreckliche Dinge mit ihnen angestellt hat. Irgendetwas in der Art.
Ich begann zu zittern und blieb stehen. Jetzt war es so weit, Bettys Prophezeiung wurde Wirklichkeit. Ich war starr vor Angst und konnte mich nicht mehr bewegen. Wenn jetzt der irre Einsiedler kam, musste er sich nicht einmal die Mühe machen, mich zu überwältigen. Er konnte mich einfach von der Straße pflücken wie ein Gänseblümchen.
Panik machte sich in mir breit. Ich wusste, dass gleich etwas passieren würde. Tränen oder Pipi, das war nicht mehr zu vermeiden.
Und dann nahm ich eine Gestalt am linken Straßenrand wahr. Der kleine Hoffnungsschimmer, der kurz aufglimmte und mich glauben ließ, dass es sich dabei eventuell um die verschollene Lucy
Weitere Kostenlose Bücher