Im Zweifel suedwaerts
»euch« sagst, meinst du eigentlich »Betty«. »Und du hast ganz zufällig dieselbe Route genommen wie wir.«
Er steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts. »Warum denn nicht?«
»Die Strecke ist ein Umweg …«
»Die Strecke ist nicht so bergig wie die anderen, wie du weißt. Und mein Van ist auch nicht mehr der Jüngste. Außerdem«, er blieb stehen und schüttelte den Kopf, entrüstet darüber, dass er sich überhaupt vor mir rechtfertigen musste, »sei doch froh, dass ich denselben Weg genommen habe wie ihr. Wer weiß, wie lang ihr hier sonst noch stehen müsstet.«
Da hatte er recht. Als Marco also glücklicherweise ganz zufällig dieselbe Straße entlangfuhr wie wir, kam er irgendwann unweigerlich erst an dem Warndreieck und dann an unserem gelben VW -Bus vorbei, den er natürlich sofort erkannte. »Ich hab ein bisschen weiter oben am Berg geparkt. Ist nicht so schlau, direkt in der Kurve zu stehen.«
»Haben wir uns ja nicht ausgesucht«, verteidigte ich mich.
»Ich weiß. Kein Grund zur Aufregung.«
Marco parkte also seinen Campervan ganz vorschriftsmäßig an einer geraden Stelle der Straße, spazierte zu unserem Bus zurück und wollte gerade an die Schiebetür klopfen, als Lucy schrie. Dann rannte sie, dann rannte er. Den Rest der Geschichte kannten wir ja.
Betty erhob sich von ihrem Platz an der Bustür und kam uns entgegen. Sie rauchte eine Zigarette, deren Ende wie ein kleines Signallämpchen mal heller und mal weniger hell orange aufglimmte. »Marco, altes Haus!«, rief sie, und ich war verdutzt, weil sie Marco trotz der Dunkelheit sofort als Marco identifiziert hatte. Aber sie hockte ja auch nicht starr vor Schreck in irgendwelchen Büschen, wie Lucy es getan hatte, oder stand, wie ich noch vor wenigen Minuten, mutterseelenallein mitten in der Wildnis auf einer nächtlichen Straße … Okay, auch Betty stand auf einer nächtlichen Straße mitten in der Wildnis. Anderes Thema.
»Hast du die beiden wieder eingesammelt?«, fragte sie ihren hessischen Freund und begrüßte ihn mit einer Umarmung. »Vielen Dank, mein Lieber, ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen.«
»Glaub mir. Ich hab mir auch Sorgen gemacht. Spätestens als Daphne mich erschießen wollte.«
Obwohl es stockfinster war, wusste ich genau, wie Betty mich jetzt gerade ansah. Ich winkte ab. »Vergessen wir das. Bring lieber den Bus wieder zum Laufen.«
Aber Marco hatte nicht vor, den Bus ohne Licht und um diese Uhrzeit wieder zum Laufen zu bringen. Stattdessen verschwand er kurz, kam wenig später mit seinem Camper den Berg heruntergefahren und schleppte uns ab.
Auf diese Weise wurde mein Wunsch, in der Natur zu übernachten, doch noch wahr, denn ein paar Kurven weiter oben fanden wir eine Kuhweide, die für diesen Zweck per fekt war. Eine Kuhweide auf einem Berg, dem wir später den Namen Berg der Wunder verleihen würden. Wieso? Dafür gibt es eine gute Erklärung.
13
Der Teil, in dem ein Wunder geschieht
BETTYS MIXTAPE
Bob Marley – Jammin’
Die Ereignisse der Nacht hatten mich wohl mehr mitgenommen, als ich vermutet hätte. Die Ereignisse der letzten Nacht, oder die der letzten Tage, vielleicht war es auch mein komplettes Leben, das mich so mitnahm. Jedenfalls schlief ich tief und fest wie ein Baby. Oder ein Stein. Und wachte erst auf, als die Vormittagssonne schon seit Stunden ihren Betrieb aufgenommen und die Luft über der Hochebene zum Flimmern gebracht hatte. Ich war mal wieder allein im Bus. Es war so heiß, dass ich mich damit begnügte, ein dünnes T -Shirt-Kleid überzuwerfen und in meine Sandalen zu schlüpfen, bevor ich die Tür öffnete und zunächst einmal nichts sah, weil die Sonne mich derartig blendete.
»Guten Morgen, Schätzelein«, hörte ich Bettys Stimme. Ich schirmte meine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und erkannte, dass sie neben Marco auf einem Klappstuhl vor seinem Camper saß, einen Joint rauchte und Kaffee trank. Marco hatte sich die langen Haare zu einem Zopf geflochten und sah ein bisschen so aus wie ein Indianer. Gemeinsam mit dem seltsamen Ort, an dem wir uns befanden, und dem grellen Licht, das alles überstrahlte, wirkte der Anblick ziemlich surreal auf mich, wie ein Traumbild.
Ich hob eine Hand zum Gruß. »Howgh!«
Marco runzelte die Stirn. »Hä?«
»Nicht so wichtig.« Als ich die Strecke zwischen Bus und Camper zurückgelegt hatte, schwirrte mir der Kopf, offenbar war mein Kreislauf noch nicht ganz auf der Höhe, ich ließ mich auf der Wiese nieder und
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