Im Zwiespalt der Gefuehle
Vielleicht wäre es das Beste gewesen. Wenn sie ihm nur…
»Glaubst du, sie haben die Männer umgebracht? « flüsterte Cilean. Sie war hohläugig und sah so schlecht aus, wie Jura sich fühlte.
Jura konnte nicht antworten. In ihrem Hals schien ein großer Klumpen zu stecken.
»Zweifellos wollten sie Sklavinnen erbeuten«, meinte Cilean. »Brita war zu alt für sie, deshalb haben sie uns genommen. «
Jura schluckte, aber das half auch nicht.
»Ja«, fuhr Cilean fort und beantwortete ihre eigene Frage. »Ich glaube, sie haben die Männer getötet. Sonst hätten sie uns doch verfolgt, und diese Ulten können im Kampf nicht gegen unsere Männer bestehen. «
Cilean erwartete Juras Antwort, aber als sie nicht kam, sprach sie weiter: »Wir haben nichts gehört, als die Ulten in unser Lager schlichen. Selbst die Fearen — sie haben schließlich Wache gehalten — haben nichts bemerkt. « Sie schloß einen Augenblick die Augen. »Brocain wird den Irial den Krieg erklären, wenn er hört, daß sein Sohn tot ist. Aber wer wird jetzt die Irial anführen? Jetzt, da Rowan und Geralt… beide… tot sind? «
Jura schloß die Augen. Sie dachte an Rowans blondes Haar und an sein Lächeln. Sie erinnerte sich daran, wie er sie in der Nacht, die sie in seinem Zelt verbracht hatten,gekitzelt hatte.
»Jetzt werden wir die Stämme nie einen«, meinte Cilean.»Die Vatell haben Brita verloren. Yaines Bruder ist tot. Brocains Sohn lebt nicht mehr. Und unser König ist tot. «
»Hör auf! « befahl Jura. »Ich kann es nicht mehr ertragen! « Cilean sah Jura erstaunt an. »Läßt die Trauer dich so seltsam reagieren? Ist es Rowans Tod, der…? «
»Bitte, schweig«, flüsterte Jura.
Cilean dachte einen Augenblick nach.
»Wir müssen bei Kräften bleiben«, sagte sie und versuchte, Juras Gedanken wieder in die Gegenwart zu lenken. »Wir müssen einen Weg finden, um diesen hinterhältigen Menschen zu entfliehen. Wir müssen ganz Lankonien berichten, was geschehen ist. Wir werden mit den anderen Stämmen Frieden schließen, um die Ulten auszulöschen. Wir werden Rowans Tod rächen. Wir werden —«
Sie sagte nichts mehr, als sie Juras Weinen vernahm. Noch nie hatte sie Jura weinen sehen…
Jura versuchte Schlaf zu finden, aber es gelang ihr nicht. Stunde um Stunde verstrich — langsam und quälend — und sie hatte genug Zeit, um sich an jeden Augenblick, | den sie mit Rowan zusammen verbracht hatte, zu erinnern. Sie dachte daran, wie sie bei ihrem ersten Zusammentreffen auf ihn reagiert hatte, und daran, wie ärgerlich sie gewesen war, als sie später herausfand, wer er war. Sie hatte sich betrogen gefühlt, als ob er sie angelogen und mit ihren Gefühlen gespielt hätte.
Und sie hatte Angst gehabt. Sie gab es zwar nicht gern zu, aber ihre starken Gefühle für diesen Mann hatten ihr Angst eingejagt. Sie hatte gefürchtet, daß sie ihm folgen, und damit ihr Land und alles, an was sie bisher geglaubt hatte, verraten würde.
»O Rowan«, flüsterte sie in das Dunkel der Nacht. Tränen rannen über ihre Wangen. »Wenn ich es dir nur hätte sagen können. «
Am Morgen des vierten Tages hielten die Wagen an, und Jura vernahm Stimmen. Cilean schlug die Augen auf und sah Jura an. Cilean bekämpfte ihre Furcht, aber Jura sah aus, als ob für sie alles bereits vorbei sei. Sie wußten nicht, was die Ulten mit ihnen vorhatten — Tod oder Sklaverei —, aber Jura schien weder das eine noch das andere Sorgen zu machen.
»Wir werden bald fliehen«, versicherte Cilean ihrer Freundin und sich selbst. »Vielleicht kommen wir gegen ein Lösegeld frei. «
Jura antwortete nicht.
Die Frauen konnten nicht mehr sprechen, denn sie wurden aus dem Wagen gezerrt und standen im hellen Sonnenlicht. Cilean blinzelte, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Das, was sie dann sah, überraschte sie sehr. Sie hatte angenommen, daß die Stadt Ulten schmutzig und schäbig sein müßte. Aber jetzt war sie so erstaunt, daß ihre Augen groß wurden.
Sie befanden sich in einer befestigten Stadt mit hübschen, gepflegten Häuschen. Die gepflasterten Straßen waren sauber gefegt. Keine Hunde oder Schweine liefen herum. In den Untergeschossen der Häuser befanden sich Läden, und Leute rannten geschäftig umher. Saubere, prächtig gekleidete Menschen.
Nein, dachte sie. Es sind ja nur Frauen! Überall sah man Frauen, erwachsene Frauen. Es gab nur ein paar Kinder, und wenn, dann waren es Mädchen.
»Wo sind die Männer? « fragte Cilean Jura leise.
Cilean
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