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Im Zwiespalt der Gefuehle

Im Zwiespalt der Gefuehle

Titel: Im Zwiespalt der Gefuehle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jude Deveraux
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öffnete Jura die Augen und sah Cilean an. Sie lagen in einem Karren unter einem großen Holzgestell und auf zerlumpten Getreidesäcken.
    »Jura, bist du in Ordnung? « flüsterte Cilean.
    Jura versuchte sich aufzusetzen, aber Hände und Knöchel waren gefesselt. »Ja«, krächzte sie. »Wo sind wir? Wer hat uns gefangengenommen? Wo sind die anderen? « Sie verzog das Gesicht, als der Karren durch ein Loch fuhr und sich ein Sack in ihre Seite bohrte.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Cilean. »Ich habe geschlafen, und als ich erwachte, lag ich hier. «
    Jura zerrte an ihren Fesseln. »Ich muß Rowan retten«, sagte sie. »Er wird versuchen, sie durch Reden zu überzeugen. Sie werden ihn töten. «
    Cilean lächelte verhalten. »Ich glaube, wir sollten uns jetzt eher um uns kümmern. Wenn sie uns gefangengenommen haben, haben sie die anderen auch in ihrer Gewalt. Ich kann noch andere Karren hören. Ich meine, wir sollten jetzt unsere Kräfte schonen. «
    Jura machte sich Sorgen um Rowan und die anderen. Sie betete, damit Gott ihn beschützte. Er ist zu jung zum Sterben, dachte sie verzweifelt. Er hat noch soviel zu tun. Und er brauchte sie, damit sie ihn beschützte. Was, wenn er wieder sein Selbstvertrauen verlor? Wer wäre dann bei ihm, um ihm zu helfen?
    Schließlich schlief sie ein, aber sie träumte davon, daß Rowan tot war. Und — im Traum — wußte sie, daß sie an seinem Tod die Schuld trug, denn sie hatte ihm nie gesagt, daß sie ihn liebte.
    Als der Karren plötzlich anhielt, wachte sie auf. Grobe Hände packten ihre Knöchel und zogen sie aus dem Wagen, wobei ihr Kopf auf harte Kisten prallte. Man löste ihre Fesseln, so daß sie stehen konnte.
    Ulten, dachte sie, als sie den kleinen dünnen Mann, der vor ihr stand, genauer ansah. All die schrecklichen Geschichten, die sie gehört hatte, schossen ihr durch den Kopf. Die Geschichten über die Ulten wurden in kalten stürmischen Nächten vor dem Feuer erzählt. Eltern drohten ihren Kindern mit den Ulten.
    Niemand wußte allerdings etwas Genaueres über sie. Es war nur bekannt, daß sie unglaublich schmutzig, hinterhältig, diebisch und nicht vertrauenswürdig waren. Außerdem wurde immer behauptet, daß sie kein Ehrgefühl besaßen. Jahrhundertelang hatten sich die anderen Stämme bemüht, die Ulten so wenig wie möglich zu beachten. Die Ulten lebten hoch in den Bergen im Nordosten Lankoniens, und niemand hatte Verlangen danach, ihre Stadt kennenzulernen.
    Aber es gab Gerüchte über diesen Ort. Als Jura noch ein Kind war, hatte ein alter Mann, dem ein Arm und ein Auge fehlten, behauptet, er wäre von den Ulten gefangengenommen worden. Er hatte berichtet, daß die Stadt der Ulten von unglaublichem Reichtum zeuge. Alle hatten ihn ausgelacht. Schließlich hatte er völlig betrunken in einer Ecke gelegen. Ein paar Tage später war er verschwunden und wurde nie wieder gesehen.
    Jetzt stand Jura also da und starrte in der Dunkelheit auf das schmutzige Gesicht des Mannes, der sie gefangengenommen hatte. Der alte Mann hielt ihr eine Tasse und einen Kanten trockenes Brot entgegen. Jura nahm das Es-sen, und als der Alte Cilean aus dem Karren zog, blickte Jura über sie hinweg. Da standen noch vier weitere Karren, an denen noch mehr vermummte Menschen schweigend arbeiteten, aber es wurden keine Gefangenen mehr aus den Wagen gezogen.
    Juras Kehle war wie zugeschnürt. »Wo sind die anderen? « fragte sie den Mann.
    Niemand sprach ein Wort, aber durch die Dunkelheit schlich eine weitere Person auf Jura zu und schlug ihr auf den Mund. Es gehörte nicht viel dazu, um zu verstehen, daß sie schweigen sollte… Jura aß ihr Brot und trank das muffige Bier. Cilean und sie durften unter den Bäumen ihre Notdurft verrichten, und dann wurden sie wieder in die Wagen gezerrt.
    Das Geschaukel des Karrens schien endlos weiterzugehen. Ein Tag floß in den anderen über. Während der dreitägigen Fahrt hielten sie sechsmal an. Jura und Cilean wurden magere Rationen zugeteilt, und sie durften eine Weile allein sein. Dann wurden sie wieder gefesselt und zu den Wagen gebracht.
    Nach dem ersten Tag sprachen Jura und Cilean nicht mehr viel. Denn der Hunger, die Erschöpfung und die Trauer waren schon schwer genug zu ertragen. Jura wurde von Gewissensbissen gepeinigt. Wenn sie nur Rowan hätte erklären können, warum sie sich so grausam verhalten hatte! Sie konnte den Gedanken an seinen Tod kaum ertragen. Vielleicht hätte sie ihn in die Arme nehmen sollen, als er geweint hatte.

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