Imagica
wird. Wenn er sich zwischen seiner Tochter und der Pflicht entscheiden muß, so wählt er letzteres.«
»Wir sind in eine Sackgasse geraten.«
»Ja. Und wir müssen schleunigst nach einem Ausweg suchen.«
»Mist.«
2
Es wurde Nacht, ohne daß Sonnenschein durch den Mantel aus Wolken geglänzt hatte. Die einzigen Geräusche im Gebäude 502
stammten von patrouillierenden Wächtern, die Mahlzeiten verteilten und dann alle Türen verriegelten. Nicht eine einzige Stimme protestierte dagegen, daß die Privilegien des Abends gestrichen worden waren: sogenannte Pferdeknochen- Spiele,
Rezitationen aus Szenen von Quexos und Malbakers Numbubo; viele Gefangene kannten diese Werke auswendig.
Eine seltsame Stille wuchs im Gebäude, als die Männer in den Zellen sogar auf den Trost von Gebeten verzichteten - niemand von ihnen wollte Aufmerksamkeit erregen.
»Offenbar ist N'ashap sehr gefährlich, wenn er getrunken hat«, sagte Pie und erklärte damit die düstere Atmosphäre.
»Vielleicht mag er mitternächtliche Hinrichtungen.«
»Ich kann mir denken, welche Namen auf seiner Exekutionsliste ganz oben stehen.«
»Schade, daß ich nicht kräftiger bin...«, murmelte Gentle.
»Wenn sie kommen, um uns zu holen - dann setzen wir uns zur Wehr, oder?«
»Natürlich«, bestätigte Pie. »Aber solange man uns in Ruhe läßt... Warum schläfst du nicht ein wenig?«
»Soll das ein Witz sein?«
»Hör wenigstens damit auf, dauernd herumzugehen.«
»Ich bin noch nie eingesperrt gewesen«, sagte Zacharias. »Es weckt klaustrophobische Empfindungen in mir.«
»Ein Pneuma genügt, um die Tür zu öffnen«, erinnerte ihn Pie.
»Vielleicht sollten wir diese Möglichkeit nutzen.«
»Wenn man uns dazu zwingt. Derzeit droht uns noch keine unmittelbare Gefahr. Um Himmels willen, leg dich endlich hin.«
Widerstrebend kam Gentle der Aufforderung nach. Trotz der Ängste und Sorgen, die ihm ständig ins Ohr flüsterten, wich allmählich die Anspannung aus seinem Leib, und schon nach wenigen Minuten schlief er ein. Irgendwann weckte ihn Pies leise Stimme.
503
»Du hast einen Besucher.«
Er setzte sich auf. Die Lampe in der Zelle brannte nicht mehr, und ohne den Geruch von Farbe wäre er kaum imstande gewesen, den Mann an der Tür zu erkennen.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Zacharias.«
»Was ist los?«
»Huzzah... Ich glaube, sie verliert den Verstand. Bitte kommen Sie.« Die flüsternde Stimme zitterte ebenso wie Apings Hand auf Gentles Arm. »Vielleicht stirbt sie...«
»Na schön. Aber Pie kommt mit.«
»Nein. Ausgeschlossen.«
»Ich kann nicht riskieren, meinen Freund hier zurückzulassen«, erwiderte Gentle.
»Und ich kann nicht riskieren, daß man mich ertappt. Wenn der Wächter die Zelle kontrolliert und einen leeren Raum sieht...«
»Er hat recht«, sagte Pie. »Geh nur. Hilf dem Kind.«
»Hältst du das für klug?«
»Mitgefühl ist immer klug.«
»Na schön. Aber bleib wach. Wir haben noch nicht gebetet.
Und dafür brauchen wir unseren gemeinsamen Atem.«
»Ich verstehe.«
Gentle trat in den Korridor, und Aping schnitt eine Grimasse, als der Schlüssel ein lautes Klicken verursachte.
Ähnliches Unbehagen regte sich auch in Zacharias. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, Pie allein zu lassen, aber anscheinend blieb ihm keine Wahl.
»Vielleicht benötigen wir auch die Hilfe eines Doktors«, hauchte er, als sie durch dunkle Gänge schlichen. »Ich schlage vor, Sie holen Scopique aus seiner Zelle.«
»Er ist ein Doktor?«
»Ja.«
»Huzzah fragt nach Ihnen«, sagte Aping. »Aus welchem Grund auch immer. Sie schluchzte im Schlaf, erwachte 504
plötzlich und bat mich, Sie zu holen. Sie ist so kalt...«
Aping kannte die Patrouillenroutine der einzelnen Wächter, und deshalb konnten sie es vermeiden, unterwegs jemandem zu begegnen. Als sie Huzzahs Raum erreichten, lag das Mädchen nicht im Bett, wie Gentle erwartet hatte - es hockte auf dem Boden und preßte Kopf und Hände an eine der Mauern. Das Licht im Zimmer brannte, und in ihrem flackernden Schein sah Zacharias ein bleiches Gesicht. Huzzah nahm seine Präsenz mit einem kurzen Blick zur Kenntnis, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Gentle trat näher und ging neben ihr in die Hocke.
Sie schauderte und fröstelte, doch Schweiß klebte ihr die Haarfransen an die Stirn.
»Was hörst du?« fragte Gentle.
»Sie ist jetzt nicht mehr in meinen Träumen, Mister Zacharias«, sagte Huzzah und formulierte die letzten beiden Worte mit großer Sorgfalt. Vielleicht
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