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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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schlecht«, erwiderte Huzzah und fügte ein empörtes Schnaufen hinzu.
    Unterdessen ging das gräßliche Spektakel weiter. Man zerrte einen Überlebenden aus dem Gebäude und stieß ihn wenige Meter vor Quaisoirs Wagen zu Boden - Türen und Fenster des Fahrzeugs waren noch immer geschlossen. Ein anderer trachtete vergeblich danach, sich vor Bajonetten zu schützen; laut und trotzig verfluchte er seine Peiniger.
    Plötzlich schien alles zu erstarren, als eine Gestalt auf dem Dach des Lagerhauses erschien. Ein Mann. Seine Kleidung bestand nur aus zerfetzter Unterwäsche. Er hob die Arme wie jemand, der zum Märtyrer werden wollte, starrte auf die Soldaten hinab und rief ihnen etwas zu.
    »Das ist Athanasius«, brachte Pie verblüfft hervor.
    Der Mystif hatte schärfere Augen als Gentle, der genau hinsehen mußte, um den Mann zu erkennen. Es handelte sich tatsächlich um Pater Athanasius: Haar und Bart länger als 565

    jemals zuvor, Blut an Händen, Stirn und am Körper.
    »Lieber Himmel, was macht er da oben?« fragte Zacharias.
    »Hält er eine Predigt?«
    Athanasius' Worte galten nicht nur den Uniformierten und ihren Opfern auf dem Kopfsteinpflaster tief unten. Er wandte sich auch an die Schaulustigen. Seine Lippen blieben in ständiger Bewegung, doch der Wind trug die Stimme fort, und deshalb wußte Gentle nicht, ob er Beschuldigungen oder Flüche ausspie. Forderte er die Menge vielleicht auf, zu den Waffen zu greifen? Angesichts der Lautlosigkeit wirkten seine Bemühungen absurd - und grenzten an Selbstmord. Einige Gewehrläufe zeigten bereits nach oben.
    Doch bevor ein Schuß knallte, sprang der Überlebende auf, den man dicht vor Quaisoirs Wagen zu Boden gestoßen hatte.
    Die Aufmerksamkeit der Männer in seiner Nähe galt in erster Linie Athanasius, und deshalb reagierten sie erst, als der Fliehende bereits ein halbes Dutzend Meter zurückgelegt hatte, andere Fluchtmöglichkeiten ignorierte und auf die Menge zulief. Die Soldaten hinter ihm drehten sich um, hoben ihre Waffen, zielten...
    Gentle ging abrupt in die Hocke und befahl Huzzah, von seinem Rücken zu klettern. Diesmal protestierte das Mädchen nicht und gehorchte. Ein oder zwei Sekunden später peitschten Schüsse. Zacharias sah auf und beobachtete, wie Athanasius taumelte, als sei er getroffen. Der Pater fiel nach hinten und verschwand hinter der Dachbrüstung.
    »Verdammter Narr«, murmelte Gentle. Er wollte Huzzah packen und forttragen, als er neuerliche Schüsse hörte.
    Eine Kugel bohrte sich in die Brust eines Dockarbeiters, der dicht neben Zacharias stand, und der Mann stürzte wie ein gefällter Baum. Gentle blickte sich nach Pie um und richtete sich dabei langsam auf. Der fliehende Mangler war ebenfalls getroffen worden und taumelte auf die Menge zu, die nun von Unruhe erfaßt wurde. Einige Schaulustige wandten sich zur 566

    Flucht; andere verharrten stur. Wieder andere kümmerten sich um den am Boden liegenden Hafenarbeiter.
    Vermutlich begriff der Mangler überhaupt nicht, was um ihn herum geschah. Nur durch die Schnelligkeit seines Laufes gelang es ihm noch, die Entfernung zur Menge zu verringern, aber sein Gesicht - es war zu jung für einen Bart - blieb ausdruckslos, und die trüben Augen starrten ins Leere. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ein Scharfschütze brachte ihn zum Schweigen, bevor er einen letzten Ton von sich geben konnte. Eine zweite Kugel traf ihn, diesmal im Nacken, durchschlug den Hals und hinterließ auch dort ein Loch, wo drei tätowierte blaue Linien über die Kehle reichten.
    Der junge Mangler verlor das Gleichgewicht, und die Männer zwischen ihm und Gentle wichen beiseite, als er fiel. Nur einen Meter vor Zacharias schlug der Körper zu Boden und zuckte.
    Der tödlich Verletzte lag mit dem Gesicht nach unten; nur seine Hände krochen wie eigenständige Wesen weiter und hielten zielstrebig auf Gentles Füße zu. Der linke Arm verlor den letzten Rest seiner Kraft, bevor er das Ziel erreichte, doch der rechte rutschte durch den Staub, bis er die abgewetzte Spitze von Zacharias' Schuh berührte.
    Er hörte, wie Pie ihm etwas zuflüsterte - »Komm, laß uns von hier verschwinden« -, aber er konnte den jungen Mann nicht im Stich lassen, nicht in diesen letzten Sekunden seines Lebens. Langsam bückte er sich, um nach den Fingern zu greifen, doch er entschied sich zu spät für die Trost spendende Geste. Der Arm erschlaffte, und die Hand des Toten sank zur Seite.
    »Kommst du jetzt endlich?« drängte

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