Imagica
Pie.
Gentle wandte den Blick von der Leiche ab und hob den Kopf. Die Szene hatte ihm ein Publikum eingebracht.
Verwirrung und Respekt zeigten sich in Dutzenden von Mienen, und die Leute schienen irgend etwas von ihm zu erwarten, vielleicht eine kurze Ansprache. Gentle breitete 567
stumm und hilflos die Arme aus. Die Leute starrten auch weiterhin, und Zacharias befürchtete schon einen Angriff für den Fall, daß er nichts sagte; aber das Krachen von weiteren Schüssen führte zu einer jähen Veränderung der Situation: Die Männer wandten sich von Gentle ab; einige von ihnen schüttelten verwundert den Kopf, schienen wie aus einer Trance zu erwachen. Der zuvor von Bajonetten gepeinigte Mangler brauchte jetzt keine Qualen mehr zu ertragen: Man hatte ihn an die Wand des Lagerhauses gestellt und erschossen.
Anschließend feuerten die Soldaten in den blutigen Haufen, der offenbar nicht nur Leichen enthielt - hier und dort erklang noch leises Stöhnen. Einige Uniformierte eilten übers Dach, in der Hoffnung, Athanasius tot oder verletzt zu finden. Sie mußten eine Enttäuschung hinnehmen: Entweder hatte er nur den Anschein erweckt, getroffen worden zu sein, oder er war leichtverletzt entkommen, während unten der junge Mangler einen Fluchtversuch wagte und starb.
Drei der Soldaten, die den Kordon gebildet hatten und in Deckung gegangen waren, als ihre Kameraden auf den Fliehenden schossen, kehrten nun zurück, um die Leiche zu holen. Sie begegneten passivem Widerstand - die Menge schob sich zwischen sie und den Toten und rempelte die Bewaffneten an. Sie bahnten sich einen Weg durchs Gedränge, schlugen dabei mit Gewehrkolben zu, aber es blieb Gentle Zeit genug, sich von dem Leichnam zu entfernen.
Als er über die Absperrung hinweg zum Schauplatz des schrecklichen Geschehens sah, fiel ihm etwas auf. Die Tür des Fahrzeugs stand offen, und Quaisoir stieg aus, umgeben von einem Schild aus Leibwächtern. Die Gemahlin des schlimmsten Tyrannen der Imagica-Domänen zeigte sich im Tageslicht, und Gentle zögerte, um einen Eindruck vom personifizierten Bösen zu gewinnen.
Pies schärfere Augen hätten ihm sicher mehr Details gezeigt, aber der Anblick kam trotzdem einem Schock gleich. Quaisoir 568
war eine menschliche Frau. Und schön. Sie stellte nicht irgendeine Schönheit dar... Gentle kannte sie unter einem anderen Namen: Judith.
Der Mystif schloß die Hand um seinen Arm, um ihn fortzuziehen, doch Zacharias rührte sich nicht von der Stelle.
»Sieh nur. Himmel, sieh nur!«
Pie sah die Frau an.
»Das ist Judith«, hauchte Gentle.
»Unmöglich.«
»Sieh hin, verdammt! Du hast bessere Augen als ich, oder?
Es ist Judith!«
Die lauteren Worte wirkten wie eine Lunte für das Pulverfaß des Zorns, der sich um ihn herum angestaut hatte. Plötzlich beschränkten sich die Schaulustigen nicht mehr auf die Rolle unbeteiligter Beobachter, sie richteten ihre Wut auf das Trio der Soldaten, das sich der Leiche näherte. Mehrere Fäuste schickten einen Uniformierten zu Boden, während sich ein zweiter zurückzog und dabei immer wieder seine Waffe abfeuerte. Praktisch sofort erfolgte die Eskalation. Messer wurden aus Scheiden gezogen, Macheten von Gürteln gehakt.
Innerhalb von fünf Sekunden verwandelte sich die Menge in eine Streitmacht, und fünf Sekunden später hatte sie die ersten drei Gegner getötet. Das Getümmel der Schlacht verwehrte Gentle weitere Blicke auf Judith, außerdem blieb ihm keine andere Wahl, als Pie zu folgen, vor allem um Huzzahs Sicherheit willen. Was ihn selbst betraf... Er fühlte sich seltsam unverwundbar, als sei er durch das erwartungsvolle Starren mit einem zusätzlichen Leben ausgestattet worden.
»Es war Judith, Pie«, betonte er noch einmal, als sie weit genug von den Schreien und Schüssen entfernt waren, um wieder miteinander reden zu können.
Huzzahs Finger hatten sich fest um Gentles Hand geschlossen, und nun sah sie neugierig zu ihm auf. »Wer ist Judith?«
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»Eine Frau, die Pie und ich kennen«, antwortete Zacharias.
»Wie kann sie es gewesen sein?« Die Stimme des Mystifs klang sowohl besorgt als auch verärgert. »Frag dich selbst: Wie kann sie es gewesen sein? Für eine Antwort wäre ich dir sehr dankbar. Nun?«
»Ich habe keine Ahnung, wie so etwas möglich ist«, entgegnete Gentle. »Aber es war keine Halluzination, kein Trugbild.«
»Wir haben sie in der Fünften zurückgelassen.«
»Wenn mir die Reise zwischen den Domänen möglich ist...
Warum nicht auch
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