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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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als der Junge die Gürtelschnallen löste und sich von seiner Ausrüstung trennte.
    Hoch oben am Hang ging ein Regen aus Granaten nieder, und das Flackern zeigte Zacharias einen erschrockenen, sogar entsetzten Jungen, in dessen Gesicht es zuckte, der am ganzen Leib zu beben begann. Welche Verbrechen auch immer er 614

    begangen hatte - es brachte sicher keine Ehre, ihn zu erschießen.
    »Verschwinde«, brummte Gentle. »Wenn ich dich jemals wiedersehe...«
    »Das werden Sie nicht«, versicherte der Jugendliche hastig.
    »Ganz bestimmt nicht.«
    Er gab Zacharias keine Zeit, es sich anders zu überlegen, wirbelte um die eigene Achse und floh, als erneut Dunkelheit heranwogte. Gentle richtete Blick und Waffe auf den Nullianac. Das Wesen saß nicht mehr, es stemmte sich langsam hoch und preßte die Finger - Huzzahs Blut klebte an ihnen - auf die vom Pneuma verursachte Wunde. Der Mensch hoffte inständig, daß es litt, aber er wußte nicht, ob solche Geschöpfe überhaupt Schmerzen empfanden.
    »Wer soll es sein?« fragte der Nullianac schließlich. Seine Stimme kam irgendwo aus dem sonderbaren Kopf; sie klang gepreßt, war nur schwer zu verstehen. »Du oder das Mädchen?
    Einen von euch beiden bringe ich um, bevor ich sterbe. Wen soll ich in den Tod mitnehmen?«
    »Niemanden«, erwiderte Gentle und hob den Revolver. »Du stirbst allein.«
    »Du bist durchaus imstande, mich zu töten«, sagte das Wesen. »Ich weiß es. Vor den Mauern von Patashoqua hast du einen meiner Brüder umgebracht.«
    »Einen Bruder von dir?«
    »Es gibt nur wenige von uns. Wir kennen uns gegenseitig.«
    »Vielleicht möchtest du vermeiden, daß ihr noch weniger werdet«, entgegnete Gentle in drohendem Tonfall. Er trat auf Huzzah zu, ohne den Nullianac aus den Augen zu lassen.
    »Sie lebt«, sagte das Geschöpf. »Etwas so Junges töte ich nicht. Zumindest nicht schnell. Die Jugend verdient, daß alles langsam geschieht.«
    Gentle wagte es, den Blick kurz vom Nullianac abzuwenden und das Mädchen anzusehen. Grauen schimmerte in Huzzahs 615

    weit aufgerissenen Augen, als sie ihren Entführer anstarrte.
    »Es ist alles in Ordnung, Engelchen«, sagte Zacharias. »Du hast jetzt nichts mehr zu befürchten. Kannst du dich bewegen?«
    Während er diese Worte formulierte, musterte er wieder das Geschöpf und fragte sich, was die Veränderungen im Glühen zwischen den Schädelhälften bedeuteten. War der Nullianac schwerer verletzt, als er bisher angenommen hatte? Nutzte er seine Energie in erster Linie für die Heilung? Oder versuchte er, Zeit zu gewinnen? Wartete er nur auf eine günstige Gelegenheit?
    Huzzah setzte sich mühsam auf und stöhnte leise. Gentle sehnte sich danach, sie zu umarmen und zu trösten, doch er beschränkte sich darauf, in die Hocke zu gehen, wobei er weiter den Nullianac beobachtete. Vorsichtig tastete er nach den Kleidungsstücken, die ihr das Wesen vom Leib gerissen hatte.
    »Kannst du gehen, Engelchen?«
    »Ich weiß nicht«, schluchzte sie.
    »Bitte versuch's. Ich helfe dir.«
    Zacharias streckte die Hand nach ihr aus, aber sie schüttelte den Kopf, wischte sich Tränen von den Wangen und stand auf.
    »Gut so, Schatz«, sagte Gentle. Das Glühen im Kopf des Nullianac wurde nun wieder heller. »Geh einfach los, Engelchen«, fügte er hinzu. »Achte nicht auf mich. Ich folge dir.«
    Huzzah kam der Aufforderung langsam nach und schluchzte noch immer. Das Wesen an der Mauer erzitterte.
    »Oh, sie auf diese Weise zu sehen...«, ließ sich der Nullianac vernehmen. »Es schmerzt.« Die flackernde Energie knisterte nun wieder. »Wozu wärst du fähig, um ihre arme Seele zu retten?«
    »Zu allem«, antwortete Gentle.
    »Du machst dir selbst etwas vor«, fuhr das Wesen fort. »Als 616

    du meinen Bruder umgebracht hast... Wir stellten Ermittlungen an, meine Verwandten und ich. Daher wissen wir, daß du ein erbärmlicher Retter und Erlöser bist. Was sind meine Verbrechen im Vergleich mit deinen? Sie spielen überhaupt keine Rolle, und außerdem beruhen sie auf bestimmten Bedürfnissen, die befriedigt werden wollen. Du hingegen... Du hast die Hoffnungen ganzer Generationen enttäuscht; du hast Früchte zerstört, die an den Bäumen großer Männer heranreiften. Und trotzdem behauptest du, zu allem bereit zu sein, um die Seele dieses kleinen Mädchens zu retten?«
    Die eloquente Ausdrucksweise verwunderte Gentle, doch ihr Bedeutungsinhalt verblüffte ihngeradezu. Was veranlaßte den Nullianac zu so unsinnigen Bemerkungen? Das Wesen hatte

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