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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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abgesehen von mir niemand Gelegenheit, den Zapfen zu betrachten«, verkündete Sartori.
    »Deshalb reagiert er recht empfindlich auf Blicke.«
    »Meine Augen sind wie deine«, erwiderte Gentle.
    »Das Gebilde wird den Unterschied bemerken«, sagte der Autokrat. »Wahrscheinlich will es dich... sondieren.« In dem letzten Wort kam etwas Sexuelles zum Ausdruck. »Laß es einfach geschehen und denk dabei an England. Es dauert nicht lange.«
    Im Anschluß an diese Worte befeuchtete sich Sartori den Daumen, preßte ihn auf einen schiefergrauen Stein in der Türmitte und malte dort ein Zeichen aus Spucke. Die Pforte reagierte auf das Signal, und ein Verriegelungsmechanismus knirschte.
    »Auch Speichel?« murmelte Gentle. »Ich dachte, es sei nur der Atem.«
    »Du benutzt Pneumas?« fragte der Autokrat. »Dann sollte ich ebenfalls dazu imstande sein. Aber ich habe den Dreh nicht raus. Du mußt mir zeigen, wie man es anstellt. Als Gegenleistung bringe ich dir den einen oder anderen Trick bei.«
    »Ich weiß nicht, worauf es bei den Pneumas ankommt.«
    »Dann lernen wir gemeinsam«, schlug Sartori vor. »Die Prinzipien sind einfach: Materie und Geist, Geist und Materie.
    Das eine verwandelt sich ins andere. Und vielleicht bezieht sich ein solcher Prozeß auch auf uns; vielleicht sind wir uns begegnet, um eine gegenseitige Verwandlung einzuleiten.«
    Der Autokrat schob die Tür auf. Zwar war sie etwa fünfzehn Zentimeter dick, aber sie bewegte sich jetzt völlig lautlos.
    Sartori sah Gentle an und machte eine einladende Geste.
    »Es heißt, Hapexamendios stellte den Zapfen in der Mitte von Imagica auf, so daß seine Fruchtbarkeit alle Domänen erreichte.« Er senkte die Stimme und kündigte damit eine Taktlosigkeit an. »Mit anderen Worten: Es handelt sich um den 715

    Phallus des Unerblickten.«
    Gentle hatte den Turm von draußen gesehen - er überragte alle anderen Gebäude des Palastes -, doch erst jetzt wurden ihm die gewaltigen Ausmaße dieses Bauwerks klar. Die Grundfläche war quadratisch, mit einer Seitenlänge von fast fünfundzwanzig Metern, und er wuchs so weit gen Himmel, daß er am Firmament zu kratzen schien. Lichter glühten in Fenstern, projizierten einen matten Schein auf das Objekt innerhalb dieser Mauern, und ihr mattes Schimmern verblaßte weit oben. Ein beeindruckender Anblick - und doch nichts im Vergleich mit dem Monolithen, für den dieses Gebäude errichtet worden war. Als die Tür aufschwang, hatte Gentle mit einem jähen Chaos aus Empfindungen gerechnet, mit einer Wiederholung des seltsamen Tons, der in seinen Knochen zu vibrieren schien, mit imaginärem Feuer, das an seinen Fingerkuppen brannte. Aber nichts geschah, und die gespenstische Ereignislosigkeit erschien ihm noch viel beunruhigender. Der Zapfen wußte, daß John Furie Zacharias in seiner Kammer stand, aber er schwieg und beobachtete, während er selbst beobachtet wurde.
    Es gab eine doppelte Überraschung für Gentle. Erstens: Das Gebilde erwies sich als wunderschön. Seine Flanken hatten die Farbe von Gewitterwolken, und ihre Struktur war so beschaffen, daß reflektiertes Licht Blitzen ähnelte. Zweitens: Der Zapfen ruhte nicht auf dem Boden, sondern schwebte trotz seiner Riesenhaftigkeit etwa drei Meter darüber. Der von ihm verursachte Schatten wirkte so enorm dicht, daß die dunkle Luft Substanz gewinnen und einen Sockel zu formen schien.
    »Eindrucksvoll, nicht wahr?« meinte Sartori. Sein großspuriger Tonfall war ebenso unangebracht wie Gelächter an einem Altar. »Man kann unter dem Ding hin und her gehen.
    Probier's aus. Es besteht keine Gefahr.«
    Gentle zögerte und spürte, daß sein anderes Selbst nach Schwächen Ausschau hielt, um sie später auszunutzen. Sartori 716

    hatte bereits gesehen, wie ihm übel geworden, wie er auf die Knie gesunken war. Zacharias wollte sich ihm gegenüber keine weitere Blöße geben.
    »Kommst du nicht mit?« fragte er und sah zurück.
    »Es ist ein sehr persönlicher Augenblick«, entgegnete der Autokrat und wich beiseite.
    Gentle gab sich einen inneren Ruck, trat in den Schatten -
    und hatte das Gefühl, wieder in den Schneewüsten der Jokalaylau zu sein. Kälte umhüllte ihn, und der Atem kondensierte, wehte als weiße Fahne von den Lippen. Er schnappte nach Luft, neigte den Kopf nach hinten, blickte zur fremden Macht empor und fühlte sich innerlich hin und her gerissen. Ein Teil von ihm wollte das Phänomen untersuchen und verstehen, doch ein anderer Aspekt seines Ichs verspürte den

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