Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
intensiven Wunsch, niederzuknien und den Zapfen anzuflehen, ihn nicht zu zermalmen. Der Himmel über ihm hatte fünf Seiten - vielleicht eine für jede Domäne. Auch hier schuf reflektiertes Licht ein unstetes Flackern, das Assoziationen an Blitze weckte. Gentle sah nun, daß die Ähnlichkeit mit einer Gewitterwolke nicht nur auf den Schatten zurückging: Im massiven Stein bewegte sich etwas. Zacharias wandte den Kopf und sah zu Sartori hinüber, der an der Tür stand, eine Zigarette zwischen den Lippen. Er entzündete sie mit einer Flamme, die eine ganze Welt entfernt zu sein schien, und Gentle beneidete ihn nicht um ihre Wärme. Der Frost reichte ihm bis ins Mark, aber er gab sich bereitwillig der Aura des Zapfens hin, erwartete sein Urteil und hoffte, daß die Masse über ihm ihre Kraft freisetzen, ihm einen Beweis für die Existenz einer solchen Macht liefern würde. Fast verächtlich wandte er den Blick von Sartori ab, und plötzlich erschien ihm das Gebaren des Autokraten absurd. Er glaubte, den Zapfen zu besitzen, doch dieses Gebilde gehörte allein sich selbst. Jene vielen Jahre, die es in diesem Turm verbracht hatte, waren nichts im Vergleich mit seiner Existenzdauer. Eine einzige 717

    Sekunde für den Stein genügte, um Sartori und Gentle samt all ihren Nachfolgern in Staub zu verwandeln. Zeit spielte für den Monolithen praktisch keine Rolle.
    Vielleicht sah oder hörte der Zapfen diese Gedanken und wußte sie zu schätzen, denn Licht verdrängte jetzt die Schemen, ohne Gentle zu blenden. Nicht nur Blitze wohnten im Stein, sondern auch die Sonne - Wärme ebenso wie tödliches Feuer. Erst glänzte es in einzelnen Strahlen herab, die einen gewissen Abstand zu ihm wahrten, und dann tastete es nach seinem Gesicht. Er erlebte so etwas nicht zum erstenmal.
    Bestimmte Ereignisse in der Fünften hatten diesen Moment angekündigt. Gentle entsann sich an Highgate Hill, zu einem Zeitpunkt, als die Straße nur ein matschiger Weg gewesen war; er hatte den Kopf gehoben, und plötzlich schimmerte es zwischen den dunklen Wolken, so wie jetzt. Oder er ging zum Fenster seines Zimmers in der Gamut Street, und der gleiche Anblick bot sich ihm dar. Er erinnerte sich auch an die nächtlichen Bombenangriffe von 1941 und beobachtete vor seinem inneren Auge, wie der Wind am Morgen den Rauch fortblies, wie die Sonne schien. Die entsprechenden Szenen hatten schon damals etwas in ihm berührt, ihn darauf hingewiesen, daß irgendwann der Schleier fortgezogen würde, um die Welt zu offenbaren.
    Dieser Eindruck wiederholte sich nun, und ein eigentümliches Unbehagen begleitete ihn. Erneut nahm Zacharias ein monotones Surren wahr, das nur im Innern seines Schädels widerzuhallen schien, und kurz darauf erklangen auch Worte. Der Zapfen sprach zu ihm.
    »Rekonziliant«, ertönte es.
    Gentle wollte sich die Ohren zuhalten, sich den Silben verweigern. Er wollte auf den Boden sinken und wie ein Prophet bitten, von der Bürde einer heiligen Pflicht befreit zu werden. Doch das Wort gehörte nicht nur zum externen Kosmos, sondern entpuppte sich auch als Bestandteil seines 718

    inneren Universums. Es gab keine Möglichkeit, ihm zu entkommen.
    »Das Werk ist noch nicht vollbracht«, sagte der Zapfen.
    »Was für ein Werk?« frage Gentle.
    »Du weißt darüber Bescheid.«
    Natürlich wußte er darüber Bescheid. Aber jenes Bemühen brachte zuviel Schmerz, und etwas in ihm sträubte sich dagegen, noch einmal eine solche Pein zu ertragen.
    »Leugnen hat keinen Sinn«, fügte der Zapfen hinzu.
    Gentle starrte ins Licht. »Ich habe schon einmal versagt, und dadurch kamen viele Personen ums Leben. Ich kann es nicht noch einmal versuchen. Bitte... Ich kann es einfach nicht.«
    » Warum bist du gekommen?« fragte der Zapfen. Die Stimme des Monolithen war jetzt so leise, daß Gentle den Atem anhalten mußte, um sie zu hören. Die Frage brachte ihn wieder an Taylors Sterbebett, zu dem Wunsch nach Verständnis.
    »Um zu verstehen...«, antwortete er.
    » Um was zu verstehen?«
    »Wenn man es mit Worten ausdrückt, klingt es... lächerlich.«
    »Sprich.«
    »Um zu verstehen, warum ich geboren bin. Warum alle anderen geboren sind.«
    »Du weißt, warum du geboren bist.«
    »Nein. Ich wünschte, es wäre mir klar.«
    »Du bist der Rekonziliant der Domänen, der Heiler von Imagica. Wenn du diese Erkenntnis ablehnst, so verschließt du dich wahrem Verstehen. Maestro, es gibt schlimmere Qualen als Erinnerungen, und jemand erleidet sie, weil dein Werk unvollendet

Weitere Kostenlose Bücher