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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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»Maestro...«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Bitte entschuldigen Sie, daß wir mit dem Essen nicht auf Sie gewartet haben. Bitte kommen Sie herein.
    Überlassen Sie diese beiden Kinder ihrem Spiel mit dem Vogel.«
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    Gentle schritt in Richtung Eßzimmer, als hinter ihm etwas pochte. Er drehte sich um und sah, wie der Vogel vor einem Fenster zu Boden fiel - offenbar war er gegen die Scheibe geprallt. Abelove stöhnte leise, und Tyrwhitt lachte nicht mehr.
    »Na bitte!« entfuhr es ihm. »Sie haben das Tier in den Tod getrieben!«
    »Mich trifft keine Schuld«, erwiderte Abelove.
    Joshua trat zu Gentle und murmelte in einem verschwörerischen Tonfall: »Was halten Sie davon, es wieder zum Leben zu erwecken?«
    »Mit gebrochenem Hals und gesplitterten Flügelknochen?«
    Gentle ächzte leise. »Damit würde ich dem Vogel keinen Gefallen erweisen.«
    »Aber es wäre amüsant«, beharrte Godolphin. In seinen Augen funkelte es schelmisch.
    »Das bezweifle ich.« Gentles Stimme brachte einen Abscheu zum Ausdruck, der das Grinsen aus Godolphins Gesicht wischte. Er fürchtet mich, dachte der Maestro. Meine Macht weckt Unbehagen in ihm.
    Joshua betrat das Eßzimmer, und Gentle wollte ihm durch die Tür folgen, als sich ein junger Mann näherte. Er konnte höchstens achtzehn sein, hatte ein schmales, schlichtes Gesicht und die Locken eines Chorknaben.
    »Maestro?« fragte er zaghaft.
    Im Gegensatz zu Joshua und den anderen erschienen Gentle diese Züge vertrauter. Schwere Lider deuteten eine gewisse Trägheit an, und hinzu kam ein effeminiert wirkender Mund -
    was diesem jungen Gesicht etwas Modernes verlieh. Zunächst erweckte der junge Mann keinen besonders intelligenten Eindruck, aber er sprach deutlich und klar, trotz seiner Nervosität. Er sah Sartori nicht an, hielt den Kopf gesenkt und bat auf diese Weise um Milde und Nachsicht.
    »Haben Sie schon jenes Anliegen erwogen, das ich an Sie herantrug, Sir?« fragte er.
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    Was für ein Anliegen? wollte Gentle erwidern, doch irgend etwas in ihm reagierte auf eine erwachende Erinnerung und hieß ihn sagen:
    »Ich weiß, wie sehr du hoffst, Lucius.«
    Lucius Cobbitt - so lautete der Name des jungen Mannes.
    Mit siebzehn kannte er alle wichtigen Werke (beziehungsweise die entsprechenden Thesen) auswendig. Er war ehrgeizig und verstand es, die richtigen Beziehungen zu knüpfen, wählte Tyrwhitt als Gönner und Förderer (welche Gegenleistungen er erbrachte, mochte allein sein Bett wissen) und hatte sich einen Dienstbotenposten im Haus gesichert. Doch er strebte mehr an, und es verstrich kaum ein Abend, ohne daß er einen flehentlichen Blick auf den Maestro richtete.
    »Ich hoffe nicht nur, Sir«, sagte Lucius. »Ich gebe mir auch Mühe. Ich habe mich mit allen Ritualen befaßt und eine Karte vom In Ovo gezeichnet - auf der Grundlage von Flutes Visionen. Oh, ich weiß, das alles ist nur ein Anfang, aber ich habe auch alle bekannten Symbole kopiert und bin bestens mit ihnen vertraut.«
    Er konnte gut zeichnen und malen - ein Talent, das ihn mit dem Maestro verband. Abgesehen von Ehrgeiz und zweifelhafter Moral...
    »Ich kann Ihnen bestimmt helfen, Sir«, fuhr Lucius fort.
    »Zweifellos brauchen Sie einen Assistenten, wenn es soweit ist.«
    »Für deinen Lerneifer hast du großes Lob verdient«, sagte Gentle. »Aber die Rekonziliation stellt eine sehr ernste Angelegenheit dar. Ich kann unmöglich die Verantwortung für dich übernehmen...«
    »Die übernehme ich selbst.«
    »Außerdem habe ich bereits einen Assistenten.«
    Enttäuschung breitete sich in Cobbitts Gesicht aus. »Tatsächlich?«
    »Ja. Er heißt Pie'oh'pah.«
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    »Sie vertrauen Ihr Leben einem Phantom an?«
    »Warum nicht?«
    »Aber... das Wesen ist nicht einmal ein Mensch.«
    »Gerade deshalb vertraue ich ihm, Lucius«, meinte Gentle.
    »Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen...«
    »Darf ich wenigstens zusehen, Sir? Ich verspreche, daß ich Sie nicht störe - ich schwöre es Ihnen. Es werden viele Leute zugegen sein.«
    Das stimmte. Mit dem näher rückenden Abend der Rekonziliation schwoll das Publikum an. Godolphin und die anderen hatten den Eid der Geheimhaltung zunächst sehr ernst genommen, doch jetzt spürten sie nahen Triumph und wurden indiskret. Leise und verlegen hatte jeder von ihnen zugegeben, einen Freund oder Verwandten zur Zeremonie eingeladen zu haben. Warum auch nicht? erwiderten sie fast trotzig, wenn Gentle deshalb die Nase rümpfte. Gab es etwas dagegen einzuwenden,

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