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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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flackerte die Flamme unsicher, und das Zimmer schien zu erzittern. Wenige Sekunden später gewann die Flamme mehr Selbstvertrauen, brannte gleichmäßiger, und Gentle wurde sich einer überraschenden Empfindung bewußt: Stolz. Sein Haus war damals ein Ort gewesen, an dem sich große Geister trafen, an dem großer Ehrgeiz zu großen Plänen führte. Hier gab es keinen Platz für gewöhnliche Gespräche. Wenn man über Politik oder ähnlich weltlich-banale Dinge reden wollte, so setzte man sich ins Cafe. Ging es darum, Geschäftliches zu erörtern, so begab man sich zur Börse. Hier diskutierte man über Weisheit und Wunder. Manchmal gehörte auch die Liebe zu den Themen, wenn sie eine wichtige Rolle spielte - was häufig der Fall war. Doch nie sprach man über Triviales. Hier waren die seltsamsten Geschichten besonders willkommen.
    Hier ließ man keine Exzesse aus, vorausgesetzt, sie dienten dazu, Visionen zu bringen - Visionen, die man anschließend mit großer Sorgfalt nach Hinweisen auf die Natur des Ewigen untersuchte.
    Gentle hob die Kerze und schritt durchs Haus. Die vielen Zimmer befanden sich in einem ziemlich schlechten Zustand: 862

    Halb verfaulte Bodendielen knarrten, und an den Wänden klebten große Schimmelfladen. Doch schon nach kurzer Zeit wich das Gegenwärtige... Als Zacharias die Treppe erreichte, zündete sein Gedächtnis überall Kerzen an; ihr Schein glühte durch die Tür des Eßzimmers, schimmerte auch aus den oben gelegenen Räumen. Es war ein sehr großzügiges Licht, das die Tapeten an den Wänden erneuerte, dicke Teppiche auf dem Boden ausbreitete und Möbel aufstellte. Die hier debattierenden Personen beschworen immer wieder die Reinheit der Seele, aber sie lehnten keineswegs Komfort fürs Fleischliche ab, solange sie an den Körper gebunden blieben.
    Wer das Haus nur von außen kannte, hätte sicher nicht vermutet, daß es eine solche Einrichtung aufwies. Als Gentle sah, wie diese Pracht erschien, hörte er auch die Stimmen jener Leute, die den Luxus genossen hatten: zuerst Gelächter; dann eine Auseinandersetzung im Obergeschoß. Noch konnte er niemanden sehen - vielleicht hielt sein Unterbewußtsein mit Rücksicht auf die geistige Stabilität Informationen zurück.
    Aber die Stimmen genügten bereits für eine Identifizierung: Die Streitenden hießen Horace Tyrwhitt und Isaac Abelove.
    Und das Gelächter... Es stammte von Joshua Godolphin. Er lachte wie der Teufel, kehlig und laut.
    »Also los«, wandte sich Gentle an seine Erinnerungen. »Ich bin bereit. Zeigt mir die Gesichter.«
    Und daraufhin erschienen sie: Thyrwhitt auf der Treppe, übertrieben gekleidet und gepudert; er wahrte einen sicheren Abstand zu Abelove, und der Grund dafür war eine Elster, die Tyrwhitt in den Händen hielt.
    »Das ist kein gutes Omen«, protestierte er. »Ein Vogel im Haus bringt Unglück.«
    »Glück und Unglück - solche Dinge betreffen nur Fischer und Spieler«, erwiderte Abelove.
    »Irgendwann gelingt es Ihnen vielleicht, einen Ausdruck zu prägen, an den es sich zu erinnern lohnt«, bemerkte Tyrwhitt.
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    »Schaffen Sie das Biest nach draußen, bevor ich ihm den Hals umdrehe.« Er wandte sich an Gentle. »Was meinen Sie, Sartori?«
    Es verblüffte Gentle, einem Blick zu begegnen, der eine zwei Jahrhunderte breite Kluft überbrückte.
    »Der Vogel ist ungefährlich«, vernahm er seine Antwort.
    »Und er gehört zu Gottes Geschöpfen.«
    Nur eine Sekunde später entkam die Elster Abeloves Händen und entleerte dabei ihren Darm. Kot fiel auf Perücke und Gesicht des Mannes, was Tyrwhitt zu einem schadenfrohen Lachen veranlaßte. »Wischen Sie das Zeug nicht ab«, sagte er, als der Vogel fortflatterte. »Es bringt Glück.«
    Godolphin kam aus dem Eßzimmer. »Was geht hier vor?«
    fragte er fast gebieterisch.
    Abelove folgte dem entflohenen Vogel, und seine Rufe stimulierten die Panik des Tiers. Es flog laut krächzend durch den Flur.
    »Jemand soll die verdammte Tür öffnen!« stieß Godolphin hervor. »Damit der blöde Vogel nach draußen kann!«
    »Wollen Sie uns um den Spaß bringen?« entgegnete Tyrwhitt.
    »Wenn Sie so freundlich wären, still zu sein...«, zischte Abelove. »Dann beruhigt sich die Elster bestimmt.«
    »Warum haben Sie sie überhaupt mitgebracht?« fragte Joshua.
    »Sie hockte auf der Stufe«, erklärte Abelove. »Ich hielt sie für verletzt.«
    »Auf mich macht sie einen ziemlich gesunden Eindruck«, brummte Godolphin und wandte Gentle ein von Brandy gerötetes Gesicht zu.

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