Imagica
beiseite. Seine Schritte wirbelten Staub auf, der dem Sonnenschein etwas Massives verlieh, und dadurch gab es für die Oviaten keinen Schatten mehr, in den sie sich zurückziehen konnten.
»Taylor ist hier«, sagte Clem nach einer Weile.
»In der Sonne?«
»Er hat einen noch besseren Platz gefunden: in meinem Kopf. Wir glauben, daß du Schutzengel benötigst, Maestro.«
»Da habt ihr völlig recht«, bestätigte Gentle. »Ich danke euch beiden.«
Er kehrte zum Fenster zurück, beugte sich über den Sims und blickte in die Tiefe. Natürlich rechnete er nicht damit, unten Sartoris Leiche zu sehen, und in dieser Hinsicht erwarteten ihn auch keine Überraschungen. Sein anderes Selbst hatte kaum so viele Jahre als Autokrat überlebt, ohne gelernt zu haben, mit dem einen oder anderen Zauber seinen Leib zu schützen.
Als sie die Treppe hinuntergingen, begegneten sie unterwegs Montag. Er hatte das Splittern des Fensters und den Schrei ge-hört.
»Ich dachte schon, es hätte dich erwischt, Boß«, sagte er.
»Fast«, lautete die Antwort.
»Was unternehmen wir in bezug auf Godolphin?« fragte Clem, als sie zusammen mit dem Jugendlichen nach unten gingen.
»Nichts«, erwiderte Gentle. »Denk nur an das offene Fenster...«
»Ich glaube nicht, daß die Leiche einfach aufsteht und fort-fliegt.«
»Nein, aber die Vögel können ins Zimmer«, sagte der Maestro ruhig. »Gönnen wir ihnen einen Festschmaus anstatt den Würmern.«
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»Ich schätze, auf eine makabre Weise ergibt das durchaus einen Sinn«, entgegnete Clem.
»Wie geht's Celestine?« wandte sich Gentle an den Jungen.
»Sie sitzt im Wagen, in Decken gehüllt. Bringt keinen Ton über die Lippen. Ich schätze, sie hält nicht viel vom Sonnenschein.«
»Nach zweihundert Jahren in der Finsternis ist das auch kein Wunder. In der Gamut Street sorgen wird dafür, daß sie es möglichst bequem hat. Sie verdient unseren Respekt, meine Herren. Unter anderem deshalb, weil sie meine Mutter ist.«
»Daher hast du also den Eigensinn und die Dickköpfigkeit«, bemerkte Tay.
»Welche Sicherheit bietet uns das Haus in Clerkenwell?«
fragte Montag.
»Wenn du wissen möchtest, wie wir Sartori daran hindern könnten, es zu betreten - ich glaube, es gibt keine Möglichkeit, ihn von dem Gebäude fernzuhalten.«
Sie erreichten das noch immer helle, sonnige Foyer.
»Was hat der verdammte Mistkerl deiner Ansicht nach vor?«
erkundigte sich Clem.
»Eines steht fest: Hierher kehrt er bestimmt nicht zurück«, sagte Gentle. »Vermutlich wandert er eine Zeitlang durch die Stadt. Aber ich zweifle nicht daran, daß er früher oder später jenen Ort aufsucht, der ihm gebührt.«
»Welchen Ort meinst du?«
Der Rekonziliant breitete die Arme aus. »Diesen hier«, sagte er.
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KAPITEL 52
l
An diesem heißen Nachmittag gab es in ganz London keine un-heimlichere Straße als Gamut Street. In der Metropole existierten viele Bereiche, denen man nachsagte, daß sie von Phantomen auf- und heimgesucht wurden, und hinzu kamen andere okkulte Orte, bekannt nur den übernatürlich Begabten.
Doch an diesem Tag lockte es die Seelen und Geister der Verstorbenen vor allem nach Clerkenwell. Nur wenige menschliche Augen waren imstande, jene Entitäten zu sehen -
das galt selbst für die Augen der Menschen, die das Wundersame erwarteten, wie zum Beispiel die Insassen eines ganz bestimmten Wagens, der um kurz nach vier zur Gamut Street rollte. Doch an ihrer Präsenz konnte trotzdem nicht der geringste Zweifel bestehen. Sie verrieten sich durch kühle, ruhige Stellen im Hitzeflimmern über der Straße, durch streunende Hunde, die sich in großer Zahl an den Straßenecken einfanden, angelockt vom Pfeifen, das aus dem Jenseits ihre Ohren erreichte.
Gentle hatte seine Gefährten darauf hingewiesen, daß ihnen das Haus keinen besonderen Komfort bot: Es gab dort weder Möbel noch Wasser und Elektrizität. Doch die Vergangenheit weile dort, betonte er, und der Aufenthalt in jenem Gebäude sei bestimmt angenehmer als der im Turm des Feindes.
»Ich kenne dieses Haus«, sagte Judith, als sie ausstieg.
»Wir sollten vorsichtig sein«, mahnte Gentle und stieg die Treppe zur Eingangstür hoch. »Sartori hat hier einen seiner Oviaten zurückgelassen, und fast wäre ich von dem Biest in den Wahnsinn getrieben worden. Wir müssen es irgendwie loswerden, bevor wir alle hineinkönnen.«
»Ich begleite dich.« Jude folgte ihm zur Tür.
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»Das halte ich nicht für klug«, erwiderte Gentle.
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