Imagica
Schatten fiel auf Oscars Züge.
»Geht es vielleicht um meinen Bruder?« erkundigte er sich.
»Um Charlie?« Er versuchte, Dowds Gesichtsausdruck zu deuten. »Tot? Einem Herzinfarkt zum Opfer gefallen? Wann findet die Beerdigung statt?«
»Nein, Ihr Bruder lebt. Aber zwischen ihm und dem Problem gibt es eine direkte Verbindung.«
»Wundert mich nicht. Kümmere dich bitte um meine Sachen. Wir setzen unser Gespräch unterwegs fort. Na los.
Dort drin hast du nichts zu befürchten.«
Dowd hatte drei Tage lang auf Godolphin gewartet, und zwar immer außerhalb der Zuflucht, obgleich sie zumindest einen gewissen Schutz vor der bitteren Kälte versprach. Er fror nicht auf die gleiche Weise wie Menschen, hielt sich jedoch für sensibel, und die auf der Erde verbrachte Zeit hatte ihn gelehrt, Kälte wenn nicht als physisches, so doch als intellektuelles Konzept zu verstehen. Während der langen Wartezeit regte sich tatsächlich ab und zu der Wunsch in ihm, einen wärmeren Ort aufzusuchen, aber die Zuflucht kam dafür gewiß nicht in Frage. Ganz abgesehen davon, daß dort viele Esoteriker gestorben waren und er nur dann Gefallen am Tod fand, wenn er ihn brachte: Jene Stätte erstreckte sich zwischen der Fünften Domäne und den übrigen vier, und zu ihr gehörte Dowds Heimat, in die er nie zurückkehren konnte. Es war sehr qualvoll für ihn, sich in unmittelbarer Nähe des Portals zu befinden, hinter dem er sein Zuhause wußte - und aufgrund von Joshua Godolphins Beschwörungen keine Möglichkeiten zu haben, die Tür zu öffnen. Deshalb blieb er draußen in der Kälte.
Doch jetzt ließ ihm Oscar keine Wahl. Dowd stand auf und kam näher. Die Zuflucht war im klassizistischen Stil errichtet worden: Zwölf marmorne Säulen stützten eine Kuppel, an der 119
Dekorationen fehlten. Die Einfachheit vermittelte Bedeutung und auch angemessene Funktionalität. Immerhin war dies eine Art Bahnhof, der einst für Tausende von Passagieren gebaut worden war und jetzt nur noch von einem benutzt wurde. Nur bei dem Boden schien man ein Zugeständnis an Verschönerungsabsichten gemacht zu haben; er bestand aus einem komplexen Mosaik, das auf den wahren Zweck des Gebäudes hinwies. In der Mitte des Musters ruhten einige Bündel mit Artefakten, die Godolphin von seinen Reisen mitgebracht hatte. Hoi-Polloi Nuits-St.-Georges hatte sie sorgfältig verschnürt und den Knoten scharlachrotes Siegel-wachs hinzugefügt. Seit einiger Zeit gefiel es ihr, dauernd Wachs zu verwenden und damit Dinge zu versiegeln, worüber sich Dowd ganz und gar nicht freute: Seine Aufgabe bestand darin, Godolphins Mitbringsel auszupacken. Er näherte sich dem Zentrum des Mosaiks auf Zehenspitzen - dies war sehr gefährliches Terrain, und er traute ihm nicht. Kurz darauf verließ er die Zuflucht mit dem Gepäck und stellte fest, daß Oscar bereits durch den kleinen Wald stapfte, der das Bauwerk mit den zwölf Marmorsäulen vom leeren Haus und Neugierigen abschirmte, die einen Blick über die Mauer warfen. Dowd holte tief Luft, folgte seinem Herrn und wußte, daß es nicht leicht sein würde, die jüngsten Ereignisse zu erklären.
2
»Sie verlangen also, daß ich zu ihnen komme?« fragte Oscar, als sie nach London fuhren. Der Abend dämmerte, und auf den Straßen herrschte dichter Verkehr. »Nun, sollen sie warten.«
»Wollen Sie nichts von Ihrer Rückkehr verlauten lassen?«
» Ich wähle den Zeitpunkt dafür. Wir stecken in ziemlichen Schwierigkeiten, Dowdy.«
»Sie gaben mir den Auftrag, Estabrook zu helfen, wenn er Hilfe braucht.«
120
»Was nicht bedeutet, daß du es ihm ermöglichen solltest, sich an einen Killer zu wenden.«
»Chant war sehr diskret.«
»Typisch für einen Toten. Du hast die Sache ganz schön vermasselt.«
»Ich protestiere«, sagte Dowd. »Was hätte ich sonst unternehmen können. Sie wußten, daß er sich den Tod jener Frau wünschte - und Sie wollten nichts damit zu tun haben.«
»Na schön«, brummte Godolphin. »Ich nehme an, inzwischen ist sie tot, oder?«
»Ich glaube nicht. Bisher brachten die Zeitungen keine entsprechende Meldung.«
»Dann frage ich mich, warum du Chant getötet hast.«
Dowd wählte seine nächsten Worte mit besonderer Vorsicht.
Wenn er zuwenig sagte, vermutete Oscar, daß er ihm nicht die ganze Wahrheit enthüllte. Doch wenn er zu viele Einzelheiten nannte, mochte Godolphin ahnen, daß es um mehr ging. Je länger er in Unwissenheit darüber verharrte, was auf dem Spiel stand, desto besser für Dowd. Also
Weitere Kostenlose Bücher