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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bot er zwei vorbereitete Erklärungen an.
    »Zunächst einmal: Der Mann erwies sich als unzuverlässig.
    Er war sentimental und oft betrunken. Außerdem wußte er mehr, als Ihnen oder Ihrem Bruder lieb sein konnte.
    Möglicherweise hätte er etwas über Ihre Reisen herausgefunden.«
    »Statt dessen ist die Gruppe mißtrauisch geworden.«
    »Die gegenwärtige Entwicklung der Dinge bedauere ich sehr.«
    »Du bedauerst sie? Verdammt, wir stecken bis zum Hals in der Scheiße.«
    »Es tut mir sehr leid.«
    Godolphin schnaufte. »Ja, ich weiß, Dowdy. Die Frage lautet: Wo finden wir einen Sündenbock?«
    »Ihr Bruder?«
    121

    »Vielleicht«, erwiderte Oscar und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihm dieser Vorschlag gefiel.
    »Wann soll ich die Gruppe von Ihrer Rückkehr informieren?« »Wenn ich mir eine Lüge zurechtgelegt habe, die mich selbst überzeugt«, sagte Godolphin.
    Im Haus an der Regent's Park Road nahm sich Oscar Zeit, um die Zeitungsberichte über Chants Tod zu lesen, bevor er die Schatzkammer im dritten Stock aufsuchte. Er nahm sowohl die neuen Artefakte mit als auch viel Stoff zum Nachdenken. Ein nicht geringer Teil von ihm wollte diese Domäne für immer aufgeben, sich in Yzordderrex niederlassen und dort mit Hebbert dem Sünder zusammenarbeiten. Er stellte sich vor, seine Tochter Hoi-Polloi zu heiraten (obgleich sie schielte), eine Menge Kinder zu haben, sich in die Berge der Denkenden Wolke (Dritte Domäne) zurückzuziehen und dort Papageien zu züchten. Aber er wußte: Früher oder später sehnte er sich bestimmt nach England, und ein Mann mit unerfüllter Sehnsucht konnte sich selbst gefährlich werden. Vielleicht endete es damit, daß er seine Frau schlug, die Kinder schika-nierte und die gezüchteten Papageien briet? Nein, er konnte sich nicht ganz von England trennen - die Kricket-Meisterschaft interessierte ihn viel zu sehr -, doch seine hiesige Präsenz bedeutete auch Verpflichtungen gegenüber der Tabula Rasa.
    Godolphin verschloß die Tür der Schatzkammer, nahm inmitten seiner Sammlung Platz und wartete auf eine Inspiration. Die Regale um ihn herum reichten bis zur Decke empor und bogen sich unter schweren Lasten. Die Gegenstände stammten aus vielen verschiedenen Regionen Imagicas - er brauchte nur einen davon zu ergreifen, um zum Zeitpunkt und Ort des Erwerbs zurückzukehren. Zum Beispiel die Statue von Etook Ha'chiit... Oscar hatte sie in einer kleinen Stadt namens Slew entdeckt, die inzwischen von der Verdammnis heimgesucht worden war. Ihre Bürger mußten mit dem Tod für 122

    ein schreckliches Verbrechen büßen: Einer von ihnen hatte den Text eines Liedes in der Umgangssprache verfaßt, und eine Strophe deutete an, daß es dem Autokraten von Yzordderrex an Hoden mangelte.
    Eine weitere Kostbarkeit war der siebte Band von Gaud Maybellornes
    Enzyklopädie der himmlischen Zeichen, ursprünglich verfaßt in der Gelehrtensprache der Dritten Domäne, später zur besonderen Erbauung des Proletariats übersetzt. Godolphin hatte das Buch in der Stadt Jassick gekauft, von einer Frau, die in einem Spielzimmer an ihn herantrat (er versuchte dort, einigen Einheimischen Kricket zu erklären) und meinte, sie hätte ihn aufgrund der Schilderungen ihres Mannes erkannt (der im autokratischen Heer von Yzordderrex diente).
    »Sie sind der Engländer«, sagte sie schlicht, und Godolphin widersprach nicht.
    Anschließend zeigte sie ihm das Buch, ein sehr seltenes Exemplar. Enorme Faszination ging davon aus, denn Gaud Maybellome beabsichtigte, all jene Dinge aufzulisten und zu beschreiben, die von der Fünften Domäne - dem ›Ort des Saftigen Felsens‹ - die übrigen Welten erreicht hatten: Flora und Fauna, Sprachen, Wissenschaften, Ideen, moralische Perspektiven und so weiter. Es war eine sehr schwierige Aufgabe, und Gaud Maybellome starb, als sie mit dem neunzehnten Band begonnen hatte. Doch das eine Buch in Godolphins Besitz genügte für seinen Beschluß, die anderen zu suchen, bis zu seinem Lebensende, wenn es sein mußte. Die gesammelten Informationen zeichneten sich durch etwas Surreales aus. Wenn auch nur die Hälfte der Beschreibungen halbwegs den Tatsachen entsprach, so hatte die Erde praktisch alle Aspekte der Welten beeinflußt, von denen sie separiert war. Maybellome behauptete, viele Tiere seien Eindringlinge von der Fünften. Bei einigen schien das ganz offensichtlich der Fall zu sein: das Zebra , das Krokodil, der Hund. Andere 123

    Geschöpfe hingegen vereinten die genetischen Strukturen

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