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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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stieß ihn noch mehr ab. Jene sexuellen Fantasien, die in der Dunkelheit Substanz zu gewinnen 113

    schienen: Judiths Gesicht, ihre Brüste und Schenkel - nur eine Illusion. Das Geschöpf, mit dem er kopuliert hatte... Es teilte nicht einmal Judiths Geschlecht.
    Gentle war weder Hypokrit noch Puritaner. Er liebte den Sex zu sehr, um irgendwelche Arten der Lust zu verdammen. Wenn er bisher auf homosexuelle Erfahrungen verzichtet hatte, so hieß der Grund dafür Gleichgültigkeit und nicht etwa Abscheu.
    Sein derzeitiger Schock basierte keineswegs auf dem Geschlecht dieser Person, vielmehr auf dem Umstand, getäuscht worden zu sein.
    »Was haben Sie mir angetan?« brachte er hervor. »Was haben Sie angestellt?«
    Pie'oh'pah blieb ruhig stehen und schien sich nur mit seiner Nacktheit verteidigen zu wollen.
    »Ich wollte Sie heilen«, erwiderte er. Zwar zitterte die Stimme, aber sie klang trotzdem melodisch.
    »Sie haben mir irgendeine Droge verabreicht.«
    »Nein!« widersprach Pie.
    »Lügen Sie nicht! Ich hielt Sie für Judith! Und Sie ließen mich in dem Glauben!« Gentle starrte auf seine Hände hinab, sah dann wieder den dunklen, schlanken Körper vor sich an.
    »Judith lag bei mir im Bett, nicht Sie.« Er wiederholte die klagende, kummervolle Frage: »Was haben Sie mir angetan?«
    »Ich gab Ihnen etwas, das Sie sich wünschten«, antwortete Pie.
    Es verschlug Gentle die Sprache - das konnte er nicht leugnen. Er schnitt eine Grimasse, schnupperte an den Händen und rechnete damit, Drogenreste im Schweiß zu riechen. Doch ihm offenbarte sich nur der Geruch von Sex, von der Leidenschaft im Bett.
    »Schlaf bringt Sie darüber hinweg«, sagte Pie.
    »Verschwinden Sie«, zischte Gentle. »Und wenn Sie sich noch einmal in Judes Nähe wagen... Dann bringe ich Sie um, das schwöre ich.«
    114

    »Sie sind von ihr besessen, wie?«
    »Das geht Sie nichts an, verdammt!«
    »Es schadet Ihnen.«
    »Seien Sie still.«
    »Es wird Ihnen zum Nachteil gereichen.«
    »Sie sollen still sein!« heulte Gentle.
    »Sie paßt nicht zu Ihnen.«
    Diese Worte entzündeten das Feuer der Wut in Gentle. Er trat einen Schritt vor und packte Pie am Hals. Der Killer ließ das Kleiderbündel fallen, stand nackt vor ihm; doch setzte er sich nicht zur Wehr, hob einfach nur die Hände und legte sie auf Gentles Schultern - eine Geste, die Zacharias mit noch mehr Zorn erfüllte. Er fluchte hingebungsvoll, aber das gelassene Gesicht vor ihm nahm Speichel und Rage hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Gentle schüttelte den Mann, preßte beide Daumen an seine Kehle, um ihm die Luft abzuschnüren.
    Pie leistete noch immer keinen Widerstand, verzichtete auf jede Reaktion und verhielt sich wie ein Heiliger, der den Märtyrertod akzeptiert hat.
    Gentle schnaufte, und nach einer Weile sanken seine Hände erschöpft herab. Er gab Pie einen Stoß, wich von ihm zurück und beäugte das Wesen argwöhnisch. Warum hatte sich dieses Geschöpf nicht gewehrt? Warum blieb es die ganze Zeit über passiv?
    »Gehen Sie«, sagte Gentle.
    Pie rührte sich noch immer nicht von der Stelle und musterte ihn aus Augen, die verzeihend blickten.
    »Sie sollen gehen«, sagte Gentle noch einmal, doch jetzt etwas sanfter.
    Diesmal antwortete der Märtyrer. »Wenn Sie das wünschen...«
    »Ja, ich wünsche es.«
    John Furie Zacharias sah, wie sich Pie'oh'pah bückte, um seine Sachen aufzuheben. Morgen sehe ich alles aus einer ganz 115

    anderen Perspektive, dachte er. Bis zum nächsten Tag hatte er das seltsame Delirium bestimmt überwunden, und dann bildeten diese sonderbaren Ereignisse - der Mordanschlag auf Judith, die Verfolgungsjagd, die Fast-Vergewaltigung durch einen Killer -, nur eine interessante Geschichte, die er in London Klein, Clem und Taylor erzählen konnte. Sie würden davon begeistert sein. Gentle merkte, daß der andere Mann jetzt halb angezogen war; er wandte sich ab, zog das Laken vom Bett und bedeckte sich damit.
    Einige unangenehme Sekunden schlossen sich an: Gentle wußte, daß der verdammte Mistkerl noch immer im Zimmer war und ihn beobachtete - er mußte warten, bis Pie den Raum verließ. Zacharias empfand es schon deshalb als unangenehm, weil er sich in diesem Zusammenhang an ähnliche Schlafzimmer-Szenen erinnerte: ein zerwühltes Bett, abkühlender Schweiß, Verwirrung, Selbstvorwürfe, das Bemühen, dem Blick der anderen Person auszuweichen. Er wartete und wartete, und endlich hörte er, wie sich die Tür schloß. Selbst dann drehte er sich nicht um und

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