Imagica
Sekunde zur anderen kehrten Jokalaylaus Augen in die Höhlen zurück. Ein eben noch mit Würmern gefüllter Mund öffnete sich, und lautes Lachen hallte durch den Tempel.
»Sie ist nicht so außergewöhnlich, Schwester«, sagte die Göttin. »Sieh nur, wie sie zittert.«
»Laß sie in Ruhe«, entgegnete Uma Umagammagi. »Warum mußt du die Leute immer auf die Probe stellen?«
»Wir existieren noch, weil es uns gelang, das Schlimmste zu überstehen«, erwiderte Jokalaylau. »Diese Frau wäre im Schnee gestorben.«
»Das bezweifle ich«, widersprach Uma Umagammagi.
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»Liebe Judith...«
Jude bebte noch immer am ganzen Leib und brauchte einige Sekunden, um die Sprache wiederzufinden.
»Ich fürchte mich nicht vor dem Tod«, sagte sie zu Jokalaylau. »Und ich habe auch keine Angst vor billigem Zauber.«
Einmal mehr ertönte Uma Umagammagis sanfte, freundliche Stimme.
»Sieh Mich an, Judith.«
»Ich möchte Jokalaylau nur daraufhinweisen...«
»Liebe Judith...«
»...daß ich mich von ihr nicht schikanieren lasse.«
»...sieh Mich an.«
Jude kam der Aufforderung nach, und diesmal war es nicht erforderlich, irgendwelchen Ambiguitäten auf den Grund zu gehen. Die Göttin manifestierte sich, ohne das Sehvermögen der menschlichen Frau herauszufordern, und der Anblick kam einem Paradoxon gleich. Uma Umagammagi war alt, ihr Körper so verwittert und verwelkt, daß er fast geschlechtslos anmutete. Der haarlose Schädel schien länglich zu sein, und Myriaden Falten umgaben die kleinen Augen. Doch das Existenzsymbol erstrahlte in reiner Pracht, erfüllte den uralten Leib mit dem Licht der Jugend.
»Siehst du Mich jetzt?« fragte Uma Umagammagi.
»Ja, ich sehe Dich.«
»Wir haben unser einstiges Fleisch nicht vergessen«, fuhr die Göttin fort. »Wir kennen die Schwächen deines Zustands.
Wir erinnern uns an das Leid und die Schmerzen des Körperlichen. Wir wissen, was es bedeutet, verletzt zu sein: im Herzen, im Kopf, im Schoß.«
»Ja«, murmelte Jude.
»Nur aus einem Grund zeigen wir uns dir: Wir glauben, daß du eines Tages zu uns gehören könntest.«
»Zu euch?«
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»Manche Gottheiten verdanken ihre Existenz dem kollektiven Willen der Gläubigen. Andere werden im heißen Herzen der Sterne geboren. Und manche sind Abstraktionen.
Aber einige wenige - vielleicht die besten und liebevollsten? -
gehen aus lebenden Seelen hervor, aus Selbstsphären, die ein höheres Existenzniveau erreichen. Wir sind solche Gottheiten, Schwester. Und Wir erinnern uns an das Leben, das wir einst führten. Daher verstehen Wir dich, liebe Judith. Daher klagen Wir dich nicht an.«
»Gilt das auch für Jokalaylau?« fragte Jude.
Die Göttin des Eises zeigte nun ebenfalls ihre Gestalt: Blässe wohnte unter ihrer Haut, und dunkel waren nun die Augen, in denen es eben noch blendend hell gegleißt hatte. Ihr Blick drang bis zum Kern von Judiths Ich vor, und sie fühlte ihn wie einen gnadenlosen Messerstich.
»Du sollst sehen, was der Vater des Vaters deines ungeborenen Kindes mit Meinen Gläubigen anstellte«, sagte Jokalaylau.
Judith wußte nun, was die Blässe darstellte: einen Schneesturm, von Pein durch die Gestalt der Göttin getrieben, bis er sie ganz ausfüllte. Die Böen türmten gewaltige weiße Wälle auf, doch auf Jokalaylaus Geheiß wichen sie beiseite -
und enthüllten damit ein Massaker. Die Leichen von Frauen lagen im Weiß, mit ausgestochenen Augen und abgeschnittenen Brüsten. Hier und dort ruhten kleinere im Frost erstarrte Leiber: verblutete Kinder, zerstückelte Säuglinge.
»Dies ist nur ein winzig kleiner Teil der Schuld, die Er auf sich lud«, sagte Jokalaylau.
Es war eine entsetzliche Szene, aber Judith wandte nicht den Blick davon ab, sondern gab sich dem Grauen hin - bis die Göttin eine weiße Decke darüberstreifte.
»Was verlangst Du von mir?« fragte Jude. »Soll ich jenen Toten eine weitere Leiche hinzufügen? Noch ein totes Kind?«
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Sie legte die Hand auf den Bauch. »Dieses Kind?«
Erst jetzt wurde ihr klar, wieviel ihr an dem Leben lag, das unter ihrem Herzen reifte.
»Es gehört dem Schlächter«, sagte Jokalaylau.
»Nein.« Judith schüttelte den Kopf. »Es gehört mir.«
»Und du übernimmst die Verantwortung dafür, mit allen Konsequenzen?«
»Natürlich«, bestätigte Jude. Das Versprechen weckte eine seltsame Begeisterung in ihr. »Auch aus dem Bösen kann Gutes werden, Göttin. Es ist möglich, Zerbrochenes zusammenzufügen.«
Sie fragte sich, ob sie
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