Imagica
Als sich der Maestro anschließend ins Meditationszimmer begab, folgte ihm der Oviat. Tränen rannen ihm über die Wangen, und seine Zähne klapperten.
»Er kommt, nicht wahr?« fragte er. »Hast du ihn gesehen, Liberatore?«
»Ja, er kommt, und nein, ich habe ihn nicht gesehen«, antwortete der Rekonziliant. »Sei nicht so entsetzt, Loch. Ich werde nicht zulassen, daß er dir ein Haar krümmt.«
Das Wesen versuchte zu lächeln, doch es wurde eine groteske Grimasse daraus.
»Du klingst wie meine Mutter. Abends sagte sie immer: Dir wird kein Leid geschehen; dir wird kein Leid geschehen.«
»Ich erinnere dich an deine Mutter?«
»In gewisser Weise - sieht man einmal von den Brüsten ab«, erwiderte Dunkles Loch. »Nun, sie war nicht gerade eine Schönheit, aber alle meine Väter haben sie geliebt.«
Unten polterte etwas, und das affenartige Geschöpf zuckte zusammen.
»Keine Angst«, sagte Gentle. »Das ist Clem. Ich habe ihn gebeten, die Fensterläden zu schließen.«
»Ich möchte mich irgendwie nützlich machen - aber wie?«
»Setze deine bisherige Tätigkeit fort: Beobachte die Straße.
Wenn du jemanden siehst...«
»Ich weiß. Dann schreie ich Zeter und Mordio.«
Das Schließen der Fensterläden schuf ein düsteres Zwielicht, 1199
in dem Clem, Montag und Gentle ihre Arbeit stumm fortsetzten. Als alle Steine nach oben gebracht worden waren, ging auch draußen der Tag zu Ende. Der Maestro suchte das Meditationszimmer auf und beobachtete, wie sich Dunkles Loch aus dem Fenster beugte, Blätter von den Zweigen des nahen Baumes löste und sie nach hinten in den Raum warf. Als Gentle ihn um eine Erklärung bat, antwortete der Oviat, das dichte Blattwerk verwehre ihm den Blick auf die Straße.
Deshalb versuche er, eine ausreichend große Lücke darin zu schaffen.
»Wenn ich mit der Rekonziliation beginne, solltest du vielleicht von weiter oben die Umgebung beobachten«, schlug der Maestro vor.
»Wie du meinst, Liberatore«, erwiderte Dunkles Loch und glitt vom Fenstersims herunter. »Aber bevor ich gehe, möchte ich dich um etwas bitten, wenn du gestattest.«
»Ich höre.«
»Es ist eine... delikate Angelegenheit.«
»Du kannst ganz offen sein.«
»Ich weiß, daß du bald mit der Zeremonie beginnst, und vielleicht genieße ich deine Gesellschaft jetzt zum letztenmal. Du wirst ein großer Mann sein, sobald du die Domänen zusammengeführt hast. Was natürlich nicht bedeuten soll, daß du derzeit noch kein großer Mann bist...«, fügte der Oviat hastig hinzu. »Schon jetzt hast du jede Menge Ruhm errungen.
Aber nach dieser Nacht wirst du der Rekonziliant sein, dem gelang, woran selbst Christo scheiterte. Dann ernennt man dich zum Papst, und vermutlich schreibst du deine Memoiren...«
Gentle lachte. »Was für mich bedeutet, daß ich dich nie wiedersehe. Nun, das ist auch ganz richtig so; es sollte gar nicht anders sein. Aber bevor du hoffnungslos berühmt und erhaben wirst... Könntest du mich vielleicht... segnen?«
»Ich soll dich segnen?«
Dunkles Loch erwartete ganz offensichtlich eine Ablehnung, 120
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denn rasch hob er die mit langen, klauenartigen Fingern ausgestatteten Hände.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Du bist bereits über alle Maßen gütig gewesen...«
»Du verstehst mich falsch.« Gentle ging vor dem kleinen Geschöpf in die Hocke und nahm damit die gleiche Haltung ein wie zu jenem Zeitpunkt, als der Oviat unter Judiths Fuß eingeklemmt gewesen war. »Ich würde dir deinen Wunsch gern erfüllen, aber leider weiß ich nicht, worauf es dabei ankommt. Ich bin kein Messias. Ich bin nie Pfarrer oder dergleichen gewesen. Ich habe nie eine Predigt gehalten oder Tote ins Leben zurückgeholt.«
»Du hast Jünger«, warf Dunkles Loch ein.
»Nein. Ich hatte Freunde, die mich ertrugen, und einige Frauen, die mich aushielten. Aber mir fehlt die Kraft, um zu inspirieren - ich habe sie an Verführungen vergeudet. Es steht mir nicht zu, jemanden zu segnen.«
»Entschuldige bitte«, murmelte der Oviat. »Ich verspreche dir, nie wieder dieses Thema anzuschneiden.«
Dann verhielt er sich auf die gleiche Weise wie unmittelbar nach der Befreiung: Er nahm Gentles Hand und hielt sie sich an die Stirn.
»Ich bin bereit, für dich zu sterben, Liberatore.«
»Hoffentlich wird dein Tod nicht notwendig.«
Dunkles Loch sah auf.
»Unter uns gesagt: Ich teile deine Hoffnung.«
Nach dem Eid begann der Oviat damit, die auf dem Boden liegenden Blätter einzusammeln. Einige davon stopfte er sich
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