Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
kannst die Augen öffnen, wenn du nur willst. Na los ! Wenn du sie nicht öffnest, helfe ich nach.«
    Es waren keine leeren Worte. Jude hob die rechte Hand zum linken Auge des Maestros und schob mit dem Daumen das Lid nach oben. Doch darunter kam keine Pupille zum Vorschein, sondern nur das Weiße. Ganz gleich, wo sich Gentle befand: Er war noch immer weit entfernt, und Judith wußte nicht, ob sie den vom Kreis verursachten Qualen lange genug standhalten konnte, um ihn zurückzuholen.
    Vom Treppenabsatz her vernahm sie Sartoris Stimme.
    »Es ist zu spät, Liebste«, sagte er. »Fühlst du es nicht? Es ist zu spät.«
    Jude sah sich nicht zu ihm um. Ihre Vorstellungskraft malte ein klares Bild: Dort stand er, mit den Messern in beiden Händen und Elegie im Gesicht. Sie schwieg, setzte ihre ganze Kraft ein, um den Maestro ins Hier und Jetzt zurückzuholen.
    1249

    Und dann plötzlich - eine Idee. Die rechte Hand glitt von seinem Gesicht fort und tastete zwischen die Beine und nach den Hoden. Bestimmt steckte noch genug vom alten Gentle im Rekonzilianten, um seine Männlichkeit zu schützen. Die Haut des Skrotums hatte sich in der Wärme des Zimmers gedehnt, und die beiden eiförmigen Gebilde ruhten locker in ihrem Sack. Jude schloß die Finger fest darum.
    »Öffne die Augen«, sagte sie. »Wenn du auch weiterhin auf stur schaltest, tut's gleich weh.«
    Gentle regte sich nicht, und Judith drückte zu.
    »Wach endlich auf!«
    Als der Mann vor ihr nicht gehorchte, übte sie noch etwas mehr Druck aus.
    » Wach auf.«
    Er atmete schneller. Judith drückte jetzt so fest zu, daß sie fürchtete, die Hoden zu zerquetschen. Einige weitere Sekunden verstrichen, ohne daß etwas geschah, und dann zuckten Gentles Lider nach oben. Aus dem Keuchen wurde ein Schrei, der erst verklang, als die Lungen keine Luft mehr enthielten. Jude hatte ihr Ziel erreicht und ließ ihn los. Der Rekonziliant war wach.
    Und zornig. Er stemmte sich in die Höhe und stieß dadurch die Frau aus dem Kreis. Sie fiel auf den Boden, blieb zunächst liegen und gab ihrer Botschaft den Vorrang:
    »Du mußt den Vorgang unterbrechen!«
    »Du bist... verrückt...«, ächzte Gentle.
    »Ich meine es ernst! Du darfst die Rekonziliation nicht durchführen! Es steckt ein Plan dahinter!« Erst jetzt erhob sich Jude. »Dowd hatte recht, Gentle! Die Welten müssen getrennt bleiben.«
    »Ich lasse mir mein Werk nicht von dir ruinieren. Es ist ohnehin zu spät.«
    »Finde eine Möglichkeit!« beharrte Jude. »Es muß einen Weg geben!«
    »Wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, bringe ich dich 125
    0

    um«, warnte Gentle. Er sah auf den Kreis hinab und vergewisserte sich, daß er nach wie vor geschlossen war. »Wo ist dem?« rief er dann. »Clem!«
    Erst jetzt blickte er an Judith vorbei zur Tür und bemerkte die schattenhafte Gestalt auf dem Treppenabsatz. Die Falten fraßen sich ihm tiefer in die Stirn, und der Gesichtsausdruck veränderte sich erneut, zeigte nun Abscheu. Jude begriff, daß sie keine Chance mehr hatte, ihn von ihrem Standpunkt zu überzeugen - er witterte eine Verschwörung.
    »Na bitte, Schatz«, brummte Sartori. »Ich habe ja gesagt, daß es zu spät ist.«
    Die beiden Gek-a-gek duckten sich neben ihm, bereit zum Sprung, und in seinen Händen glitzerten die Klingen der Messer. Diesmal machte er keine Anstalten, der Geliebten das Heft eines Dolchs anzubieten. Wenn sie sich weigerte, mit ihm zusammen zu sterben, so war er bereit, ihren Tod zu erzwingen.
    »Es ist vorbei, Liebling«, sagte er.
    Sartori trat vor und über die Schwelle hinweg.
    »Wir können es hier hinter uns bringen«, fügte er hinzu und sah auf Jude herab. »Hier, am Ort unserer Schöpfung. Gibt es einen besseren Platz?«
    Sie brauchte sich nicht Gentle zuzuwenden, um festzustellen, daß er diese Worte hörte. Existierte doch noch ein vager Hoffnungsschimmer? Konnte Sartori dort einen Erfolg erzielen, wo sie versagt hatte?
    »Ich muß es für uns beide erledigen, Teuerste«, fuhr der ehemalige Autokrat fort. »Du bist zu schwach. Du gibst dich Illusionen hin und weigerst dich, die bittere Realität zu akzeptieren.«
    »Ich... möchte... nicht... sterben«, entgegnete Judith.
    »Du hast gar keine Wahl. Entweder Vater oder Sohn. Vater oder Sohn.«
    Hinter der Frau, im steinernen Kreis, murmelte Gentle zwei 1251

    Silben.
    »O Pie...«
    Sartori trat einen zweiten Schritt vor, der ihn aus dem Schatten ins Kerzenlicht brachte, in ein Flackern, das die letzten Schleier fortriß und jedes

Weitere Kostenlose Bücher