Imagica
westlichen Welt keine nennenswerte Kraft mehr dar. Selbstbeglückwünschende Ansprachen berichteten von unterwanderten Kulten aus Pseudo-wissenschaftlern, die obskure Theorien austauschten und sich dabei nicht einmal auf eine gemeinsame Sprache einigen 149
konnten. Manchmal bestanden solche ›Sekten‹ auch aus sexuell Besessenen, die irgendwelchen Hokuspokus als Vorwand benutzten, um ihre erotischen Fantasien zu verwirklichen -
oder aus Irren, die nach Mythologischem suchten, um nicht endgültig auszurasten. Aber gab es unter diesen Scharlatanen vielleicht jemanden, der den Weg nach Imagica instinktiv erkannte? Einen natürlichen Maestro, geboren mit besonderen Talenten, die es ihm erlaubten, die Basis für den zweiten Versuch einer Zusammenführung zu schaffen? Bisher hatte Godolphin nie an eine solche Möglichkeit gedacht - er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Geheimnis seiner Reisen zu hüten -, und jetzt erwies sich dieser Gedanke als ebenso faszinierend wie beunruhigend.
»Meiner Ansicht nach sollten wir davon ausgehen, daß tatsächlich Gefahr besteht«, sagte er. »So unwahrscheinlich sie uns auch erscheinen mag.«
»Was für eine Gefahr?« fragte McGann.
»Daß sich irgendwo ein Maestro herumtreibt. Jemand, der die Ambitionen unserer Ahnen kennt und das Experiment wiederholen will. Vielleicht legt er gar keinen Wert auf die Bücher. Vielleicht braucht er sie überhaupt nicht. Vielleicht sitzt er in diesem Augenblick zu Hause und ist damit beschäftigt, das Problem ganz allein zu lösen.«
»Und wie vereiteln wir seine Pläne?« fragte Charlotte.
»Wir beginnen mit einer Säuberungsaktion«, schlug Shales vor. »Ich sage es nicht gern, aber Godolphin hat recht. Wir haben keine Ahnung, was dort draußen geschieht. Wir beobachten alles aus der Ferne, und gelegentlich ziehen wir jemanden aus dem Verkehr, aber jetzt verlangt die Situation nach mehr.«
»Eine Säuberungsaktion«, wiederholte Bloxham. »Wie gehen wir dabei vor?« Seine grauen Augen glänzten fanatisch.
»Wir haben Helfer. Und wir bringen sie zum Einsatz. Wir suchen überall, und wenn wir dabei etwas finden, das uns nicht 150
gefällt, so wird es eliminiert.«
»Wir sind keine Mördergruppe.«
»Aber es mangelt uns nicht an Geld, um Killer zu beauftragen«, erwiderte Shales. »Ebensowenig an einflußreichen Freunden, die Beweismaterial beseitigen, falls das notwendig werden sollte. Unter allen Umständen müssen wir verhindern, daß ein zweiter Rekonziliationsversuch stattfindet. Schließlich wurden wir geboren, um diese Pflicht zu erfüllen.«
Seine Stimme klang keineswegs melodramatisch, ganz im Gegenteil: Shales sprach so ruhig und monoton, als lese er eine Einkaufsliste vor. Seine kühle Gelassenheit beeindruckte die übrigen Angehörigen der Tabula Rasa ebenso wie die letzte Bemerkung. Wer war nicht tief bewegt, wenn er an eine derartige Verantwortung dachte, die über mehrere Generationen hinweg in die Vergangenheit reichte, bis hin zu jenen Personen, die sich vor zweihundert Jahren an diesem Ort eingefunden hatten? Einige wenige Überlebende, die einen feierlichen Eid leisteten: Sie selbst, ihre Kinder sowie die Kinder ihrer Kinder sollten bis in alle Ewigkeit fest dazu verpflichtet sein, einer neuerlichen Apokalypse vorzubeugen.
McGann regte eine Abstimmung an, und sie führte zu einem einstimmigen Beschluß. Man kam überein, alle Elemente (ob unschuldig oder nicht) zu neutralisieren, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Bemühen standen, Tore zu den sogenannten zusammengeführten Domänen zu öffnen.
Konventionelle religiöse Organisationen waren nicht von diesen Maßnahmen betroffen, da sie sich durch ausgeprägte Inkompetenz auszeichneten und eine nützliche Ablenkung für jene Seelen darstellten, die sonst dem Reiz esoterischer Praktiken erliegen mochten. Auch den Blendern und ihren Anhängern sollte keine Beachtung geschenkt werden, ebensowenig den Chiromanten, Handwahrsagern, angeblichen Hellsehern und Spiritisten, die neue Konzerte für tote 151
Komponisten schrieben und Sonette im Namen von längst zu Staub zerfallenen Dichtern verfaßten. Nur Personen, die von dem Geheimnis namens Imagica erfuhren und das Potential hatten, in dieser Hinsicht aktiv zu werden, sollten unschädlich gemacht werden. Viel Arbeit erwartete die Tabula Rasa, und Blutvergießen ließ sich bestimmt nicht vermeiden, aber die Gruppe war bereit, sich einer solchen Herausforderung zu stellen. Sie hatte schon andere
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