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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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großen Orgien in den Hinterzimmern und Umkleideräumen von New York und San Francisco: Er entsann sich an seine Liebeskarriere bereits dann, wenn er am Schweiß der Achseln schnüffelte. Judith hatte ihn immer beneidet. Ihr fiel es ebenso schwer wie Gentle, sich an mehr als die letzten zehn Jahre ihres Lebens zu erinnern. In ihrem Gedächtnis fehlten sowohl Szenen aus Kindheit und Jugend als auch Bilder der Eltern; selbst ihre Namen waren der Vergessenheit anheimgefallen. Die Unfähigkeit, an Historischem festzuhalten, belastete sie nur dann, wenn sie jemandem wie Taylor begegnete, der so großen Gefallen an Reminiszenzen fand. Judith hoffte, daß sie ihm noch immer Freude bereiteten - ihm blieb nichts anderes.
    Clem hatte ihr im vergangenen Juli von der Krankheit erzählt. Er und Taylor teilten eine Vergangenheit voll lebenslustiger Ausschweifungen, doch das Leiden verschonte Clem. Jude hatte damals an mehreren Abenden mit ihm gesprochen und versucht, ihn von einem irrationalen Schuldbewußtsein zu befreien. Im Herbst verloren sie sich aus den Augen, und daher überraschte es sie, nach der Rückkehr von New York eine Einladung zur Weihnachtsfeier vorzufinden. Die jüngsten Ereignisse weckten den Wunsch in ihr, allein zu sein, um in aller Ruhe nachzudenken. Sie rief Clem an, um abzusagen - und hörte von ihm, daß Taylor den nächsten Frühling (vom Sommer ganz zu schweigen) nicht 155

    mehr erleben würde. Ob sie bereit sei, ihn noch einmal mit ihrem Besuch zu erfreuen? Selbstverständlich, lautete ihre Antwort. Taylor und Clem hatten es immer verstanden, sie aufzumuntern, und allein aus diesem Grund war sie ihnen zu Dank verpflichtet. Mit heterosexuellen Männern bekam sie häufig Schwierigkeiten; vielleicht fühlte sie sich deshalb in der Nähe von Homosexuellen wohl, für die ihr Geschlecht ohne Reiz blieb.
    Kurz nach acht am Abend des ersten Weihnachtstages klingelte Judith an der Tür. Clem öffnete, winkte sie herein und küßte sie unter dem Mistelzweig im Flur, bevor er sie den
    ›Barbaren‹ überließ, wie er sich ausdrückte. Die Wohnung war auf altertümliche Weise geschmückt: Fichten- und Kiefern-zweige ersetzten Girlanden, Lametta und bunte Lichter; sie hingen in solchen Mengen an den Wänden, daß die Party in einem Wald stattzufinden schien. Über Jahre hinweg hatte Clem den Eindruck erweckt, überhaupt nicht zu altern, doch jetzt wirkte er mitgenommen. Noch vor fünf Monaten wäre Judith bereit gewesen, ihn auf gut Dreißig zu schätzen, und nun sah er mindestens zehn Jahre älter aus. Die überschwengliche Begrüßung täuschte nicht über seine Erschöpfung hinweg.
    »Du trägst grüne Kleidung«, sagte er, als er die Besucherin ins Wohnzimmer führte. »Ich habe Taylor darauf vorbereitet.
    Grüne Augen, grüne Sachen.«
    »Gefällt's dir?«
    »Natürlich! Diesmal feiern wir ein heidnisches Weihnachten.
    Dies Natalis Solls Invictus.«
    »Was heißt das?«
    »Die Geburt der unbesiegten Sonne«, übersetzte Clem. »Das Licht der Welt. Davon können wir jetzt ein wenig gebrauchen.«
    »Kenne ich einige der anderen Gäste?« fragte Judith, bevor sie sich ins Getümmel stürzten.
    »Alle kennen dich, Teuerste«, erwiderte Clem stolz. »Selbst 156

    jene Leute, die dir nie begegnet sind.«
    Jude sah viele vertraute Gesichter und brauchte fast fünf Minuten, um Taylor zu erreichen: Wie ein König thronte er inmitten des Durcheinanders, saß auf einem weich gepolsterten Sessel in unmittelbarer Nähe eines lodernden Kaminfeuers.
    Sein Erscheinungsbild schockierte Judith. Die einstige Löwenmähne existierte nicht mehr, und den eingefallenen Wangen haftete eine wächserne Blässe an. Die Augen stellten das beeindruckendste Merkmal seines Gesichts dar (ebenso wie bei Judith), und sie waren jetzt riesig, schienen soviel wie möglich sehen zu wollen, bevor der Tod ewige Finsternis brachte.
    Taylor breitete die Arme aus, als Jude auf ihn zukam.
    »Oh, Liebling!« seufzte er. »Umarme mich. Und verzeih bitte, wenn ich sitzen bleibe.«
    Judith beugte sich vor und schlang die Arme um ihn. Er bestand nur noch aus Haut und Knochen. Und er fror, trotz des nahen Feuers.
    »Hast du die Bowle probiert?« fragte er.
    »Ich hole ein Glas«, bot sich Clem an.
    »Und bring mir einen Wodka mit«, sagte Taylor so gebieterisch wie früher.
    »Wir haben doch vereinbart, daß du...«, begann Clem.
    »Ich weiß, das Zeug schadet mir. Aber es behagt mir ganz und gar nicht, nüchtern zu bleiben.«
    »Es ist deine Beerdigung«,

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