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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Säuberungsaktionen durchgeführt, wenn auch noch nie in einem solchen Ausmaß, und daher war sie vorbereitet. An erster Stelle kamen natürlich die Kulte: Ihre Akolythen konnte man verjagen, und wenn sich die Oberhäupter nicht bestechen ließen, so mußten sie ins Gefängnis wandern oder durch ›Unfälle‹ sterben. Einmal mehr sollte England alle bedeutenden Esoteriker und Traumaturgen verlieren.
    »Sind wir damit fertig?« brummte Oscar. »Ich möchte jetzt los, um die Mitternachtsmesse zu besuchen.«
    »Und die Leiche?« fragte Alice Tyrwhitt.
    Godolphin hatte sich die Antwort schon zurechtgelegt.
    »Ich habe das Wesen getötet, und deshalb sorge ich dafür, daß der Leichnam verschwindet«, sagte er mit angemessener Demut. »Es sei denn, jemand möchte mir diese Arbeit abnehmen...«
    Die anderen Mitglieder der Tabula Rasa schüttelten stumm den Kopf.
    »Ich brauche Hilfe, um den Körper einzupacken und zum Wagen zu bringen. Wie wär's mit Ihnen, Bloxham?«
    Bloxham versuchte, sich seinen Abscheu nicht anmerken zu lassen, als er das Zimmer verließ, um eine Kunststoffplane zu holen.
    »Ich habe keine Lust, dabei zuzusehen.« Charlotte stand auf.
    »Wenn es sonst nichts mehr zu besprechen gibt, kehre ich jetzt heim.«
    Als sie zur Tür ging, nutzte Godolphin die gute Gelegenheit, 152

    um dem Selbstbewußtsein der Tabula Rasa noch einen Schlag zu versetzen.
    »Ich schätze, uns allen geht jetzt der gleiche Gedanke durch den Kopf«, sagte er.
    »Was für einer?« fragte Lionel prompt.
    »Nun, wenn es den Fremden so gut gelingt, die menschliche Gestalt nachzuahmen, können wir einander von jetzt an nicht mehr vorbehaltlos vertrauen. Ich schätze, derzeit sind wir alle Menschen, aber wer weiß, ob das auch noch in einigen Tagen der Fall sein wird.«
    Eine halbe Stunde später war Oscar zum Aufbruch bereit.
    Trotz des anfänglichen Ekels hatte Bloxham erstaunliche Tapferkeit bewiesen, indem er Dowds Eingeweide in den Leichnam stopfte und ihn in eine Plastikplane wickelte.
    Zusammen mit Godolphin trug er die schwere Last zum Lift und aus dem Turm zum Wagen. Es war eine klare Nacht, und der Mond leuchtete in einem Meer aus Sternen. Oscar nahm sich wie immer Zeit, etwas Schönes zu bewundern; er verharrte und sah zum Firmament empor.
    »Fantastisch, nicht wahr, Giles?«
    »Und ob!« erwiderte Bloxham. »Ich kann es kaum fassen.«
    »So viele Welten...«
    »Keine Sorge. Wir werden uns darum bemühen, daß sie für immer von der Erde getrennt bleiben.«
    Diese Antwort verwirrte Godolphin, und er wandte den Kopf.
    Bloxham achtete gar nicht auf die Sterne; er war noch immer mit der Leiche beschäftigt und schien die bevorstehende Säuberungsaktion fantastisch zu finden.
    »Das sollte reichen«, sagte er, schloß den Kofferraum und streckte Godolphin die Hand entgegen.
    Oscar war froh darüber, daß Schatten über seinen Widerwillen hinwegtäuschten, als er die dargebotene Hand schüttelte und sich verabschiedete. Er wußte: Schon sehr bald 153

    mußte er eine Seite wählen. Zwar hatte er an diesem Abend einen großen Erfolg erzielt und damit Sicherheit gewonnen -
    doch gehörte er wirklich zu den Leuten, die glaubten, eine gräßliche Gefahr abwenden zu müssen? Und wenn sein Platz nicht bei ihnen war - wo dann? Ratlosigkeit erfaßte ihn, und er sehnte den Trost der Mitternachtsmesse herbei.
    Fünfundzwanzig Minuten später stieg er die Treppe vor der Kirche St. Martin's-in-the-Field hoch und murmelte dabei ein Gebet, das ähnliche Gefühle zum Ausdruck brachte wie jene Lieder, deren Melodien gleich ertönen würden. Er wünschte sich Hoffnung, die Zweifel und Verwirrung aus seinem Herzen vertreiben könne - und ein Licht, das nicht nur in ihm erstrahlen, sondern in allen Domänen, vom einen Ende Imagicas bis zum anderen, glänzen würde. Falls solche Göttlichkeit wirklich existierte, so betete Oscar darum, daß die Weihnachtslieder noch eine andere Botschaft verkündeten. Die Geschichten von Christi Geburt klangen zwar herrlich, aber die Zeit war knapp, und das Kind in der Krippe durfte nicht die einzige Hoffnung sein: Wenn es ein Alter erreichte, das es zur Erlösung befähigte - vielleicht waren die Welten dann längst tot.
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KAPITEL 12
l
    Taylor Briggs hatte Judith einmal gesagt die Sommer seien zeitlicher Maßstab seines Lebens. Wenn es mit ihm zu Ende ging, so meinte er, würde er sich an die Sommer erinnern, sie zählen und sich ihrer glücklich schätzen. Von den Romanzen seiner Jugend bis zu den letzten

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