Imagon
Kopenhagen präsentierten Fotos noch besessen hatte.
Ob DeFries’ Entscheidung, sich ans Ende der Welt nach Scoresby versetzen zu lassen, wirklich nur eine Flucht vor dem eigenen Namen gewesen war, oder ob bedeutend mehr dahinter steckte, hatte er mir nie verraten. Damals hatte ein Glanz in seinen Augen gelegen, dessen Intensität ich nie vergessen werde; ein unstillbares Feuer, das keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass DeFries genau wusste, was er wollte. Es war ein Feuer aus Wissensdurst und etwas Unbeschreiblichem, Unverständlichem, das weit über das Begreifen eines Außenstehenden hinausging. Was für alle anderen in unerreichbarer Nähe lag, schien auf DeFries in erreichbarer Ferne zu warten.
Dieses einzigartige Feuer sah ich nun intensiver denn je in seinen Augen lodern, ehe wir uns in die Arme fielen.
DeFries’ Begleiter blieb stumm in unserer Nähe stehen. Er war ein Inuit oder ein Grönländer, wie ich anhand seiner Augenform erkannte. Der Kerl war einen halben Kopf größer als ich, zog weder die Maske noch die Kapuze vom Kopf und schien nicht besonders kommunikativ zu sein. DeFries nannte ihn Maqi. Er war jemand, dem ich zugetraut hätte, einen Eisenbahnwaggon mit den Zähnen zu ziehen und einen Eisbär mit bloßen Fäusten zu verjagen.
Noch am Kraterrand entwickelte sich zwischen DeFries und mir ein angeregtes Gespräch, das von unbekümmerter Freude über unser Wiedersehen geprägt war. Es begleitete unseren Weg zu den Unterkünften, untermalte den Lauf der Sonne über das Eis und fand erst sehr spät in der Nacht ein erschöpftes Ende.
Weder DeFries noch ich verspürten – Absicht oder unterschwelliger Zwang – das Bedürfnis, an diesem Abend über die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen, den Impakt, das rätselhafte Gebäude oder unsere Arbeit zu reden. Morgen würden wir wieder gewissenhaft unsere Arbeit verrichten, 1200 Kilometer vom magnetischen und 2000 Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt. Heute jedoch frischten wir unsere amicitia scientiae mit dänischem Dosenbier auf.
TEIL ZWEI
DER KRATER
6
Ich schwebte über ein schneebedecktes, von steilen Felswänden gesäumtes Gebirgstal. Die allumfassende Dunkelheit der letzten Träume war kaltem Zwielicht gewichen, so kraftlos, als seien der durch sanfte Wolkenschleier erkennbare Mond, die kränklich über dem Horizont hängende Sonne und die Gestirne nach einem langen Kampf gegeneinander ermattet. Ihr Licht verwandelte das Land in eine düstere, abweisende Kruste aus schwarzem Felsgestein und grauem Eis.
Unter mir erstreckte sich eine Landschaft, die den ersten Tagen der Schöpfung zu entstammen schien; wild, archaisch und unbehauen. Soweit mein Auge reichte, umgaben mich schroffe, schneebedeckte Felsklippen, Grate und Zinnen aus dunklem Granit, die in der Ferne eins wurden mit dem Horizont.
Ich hatte den Wunsch, an mir entlang zu blicken, in der Erwartung, mich mit gestrecktem Körper und weit ausgebreiteten Armen durch die Luft schweben zu sehen, doch es war mir nicht möglich. Ebenso wenig war mir ein Blick in eine andere Richtung vergönnt. Eine höhere Gewalt hatte die Regie meiner Wahrnehmung übernommen.
Dann fühlte ich zum ersten Mal den Wind, kalt und schneidend. Er traf nicht nur das unsichtbare Auge, als das ich mich wähnte, sondern umströmte noch mehr, etwas … Ich versuchte erneut, den Blick zu senken und meinen Körper zu erkennen. Als es mir nicht gelang, versuchte ich das Auge zu schließen. Es ging nicht. Der Wind umströmte einen Körper, doch ich fühlte ihn nicht als den meinen. Ich war mehr als nur ein starres Auge, aber ich konnte nicht definieren, was ich war. Der Körper war groß, eine kompakte, unsichtbare Masse. Nichts daran ließ sich bewegen. Ich fühlte keine ausgebreiteten Arme oder Schwingen, keinerlei Gliedmaßen, nichts Menschliches. Was der Wind umfloss, fühlte sich an wie ein riesiger, stromlinienförmiger Klumpen; ein Körper, der niemals in der Lage sein dürfte, zu fliegen.
Doch es war nur ein Traum, und mich trug der Wind …
Ich erwachte vom Dröhnen eines Helikopters, der in geringer Höhe über die Wohncontainer hinwegflog. Die gesamte Station vibrierte unter dem Schallgewitter. Schlaftrunken warf ich einen Blick auf die Uhr: Ich hatte kaum sechs Stunden geschlafen. Der Rotorenlärm wurde leiser, entfernte sich. Bei dem morgendlichen Störenfried konnte sich nur um Hansen handeln, der meine Ausrüstung ins Lager transportierte. Von
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