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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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im Hintergrund vor Augen … Aus einem inneren Bedürfnis heraus erzählte ich DeFries den Traum, und auch jene, die ich bereits während meiner Anreise und den letzten Nächten gehabt hatte – soweit sie mir bewusst geblieben waren. DeFries lauschte schweigend, nickte hin und wieder wie zur Bestätigung, schüttelte gelegentlich den Kopf und schien die fehlenden Fragmente in Gedanken zu rekonstruieren. Rijnhard konnte sich offensichtlich keinen besonderen Reim auf das Erzählte machen. Er hatte eine Miene aufgesetzt, als lausche er Fieber-Fantasmagorien.
    Als ich fertig war und fast die gesamte Wasserflasche geleert hatte, knetete DeFries müde seine Augen. Rijnhard saß mit einer Tasse Kaffee schweigend auf einem Rollheizkörper und betrachtete den Fußboden, Maqi stand immer noch reglos und schweigsam vor der Tür. Meinen forschenden Blick erwiderte er mit ausdrucksloser Miene.
    »Diese Träume …«, begann DeFries, sah eine Weile ratlos drein und schüttelte den Kopf. »Hatten Sie hin und wieder das Gefühl, den Traum eines anderen zu träumen? Besser gesagt: Hatten Sie das Gefühl, den Traum von etwas Anderem zu träumen; etwas, das dazu eigentlich gar nicht in der Lage sein dürfte?«
    Ich horchte eine Zeit lang in mich hinein, ehe ich nickte. »Dieser Körper«, meinte ich tonlos, »ich spürte, wie der Wind über ihn strich. Er war monströs und … wie soll ich sagen? Unförmig? Wie eine riesige schwebende Molluske …«
    Rijnhard atmete scharf aus. Er stand auf, lief zur Wand und tat so, als betrachte er ein Pin-Up. In Wirklichkeit nahm er einen kräftigen Schluck aus seinem Flachmann.
    »In einigen frühen Hochkulturen fürchteten sich die Menschen vor einer bestimmten Art von Träumen, bei denen sich das Bewusstsein auf eine Art und Weise vom Körper löst, die mit einer Astralwanderung vergleichbar ist«, begann DeFries zu erzählen. »Die frühesten schriftlichen Überlieferungen über diese Seelenreisen stammen von den Sumerern. Sie bezeichneten diesen Traumzustand als Imagosidion. Ihren Schriften zufolge geschahen solche Entrückungen nicht freiwillig, sondern wurden von Äonen alten Wesenheiten bestimmt und gelenkt. Auch die Bibel erzählt von Traumbegegnungen mit Engeln oder Dämonen, ähnliche Berichte finden sich im Enuma Elish- Mythos oder dem Buch Asturel. Die Sumerer jedoch besaßen einen Namen für diese Wesen. Sie nannten sie Esh’maga – Ältere Götter. Jene Menschen, deren Seelen quasi in das Bewusstsein eines solchen Wesens entführt wurden, bezeichnete man seinerzeit als Imagonen.
    Es war keine Verbindung, die generell auf Feindseligkeit beruhte, aber jede Münze besitzt bekanntlich zwei Seiten. Niemand wusste zu berichten, warum diese geistigen Paarungen zustande kamen. Und niemand wusste, wer das Ingenium der geistigen Verschmelzung in sich trug, ehe es nicht zum ersten Mal passierte. Entweder akzeptierte man daraufhin sein Los oder nahm sich überfordert das Leben. Wer die Begabung besaß, konnte ebenso viel Wissen und Weisheit aus dem Imagosidion ziehen wie Wahnsinn und Verderben. Einige Menschen empfingen aus ihm ihre kreative Energie, andere weissagten Dinge oder wurden kundige Lehrer kosmischer Geheimnisse. Lugalzaggesi, der erste sumerische König, war laut Überlieferung ein Imagone. Menschen, die aus ihrer Not keine Tugend zu machen verstanden, verloren mit der Zeit einfach nur den Verstand.
    Zwar ist es wissenschaftlich nicht erwiesen, und ich möchte Sie keinesfalls beunruhigen, Poul, aber seit meinen Studienreisen bin ich davon überzeugt, dass Esh’maga auch heute noch existieren und metaphysische Vereinigungen mit Menschen eingehen. Einigen sumerischen Schriften zufolge erhält ein Esh’magone seinen geistigen Kontakt – sofern er einmal hergestellt ist – für immer aufrecht.«
    »Für immer?«, fragte ich zweifelnd. »Sie meinen, bis zum Tod des menschlichen Mediums?«
    »Nein.« DeFries sah mich offen an. »Bis zum Tod des Esh’magonen.«
    »Und« – ich lächelte schief – »wie lange lebt so ein Wesen?«
    DeFries zuckte die Achseln. »Das weiß niemand. Jahrhunderte. Jahrtausende … Was Sie uns vorhin geschildert haben – Ihr immer wiederkehrender, unbeeinflussbarer Flug über das Gebirge, Ihre Unfähigkeit, sich zu bewegen, die temporalen Gegensätze, das Gefühl, keinen eigenen Körper mehr zu besitzen, das physisch sowie psychisch Abnorme, vor allem aber dieser letzte, archaische Traum – all das erinnert auffallend an eine solche Form geistiger

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