Imagon
›Leerstelle‹. Aber dadurch besaßen wir zumindest die Möglichkeit, herauszufinden, wo es nicht war.
Innerhalb von vier Tagen hatten wir achtzehn Traversen gelegt, um ein vollständiges 3D-Abbild des Schallnebels zu erhalten. Das Tomogramm, das wir zuletzt erhalten haben, besitzt keine besonders gute Auflösung, aber es beantwortet zumindest Ihre Frage.« DeFries zog einen Computerausdruck aus der Mappe und reichte ihn mir.
Reflexionsseismische Messungen sind mit der medizinischen Ultraschall-Tomographie und dem Echolot in der Schifffahrt verwandt. Nur dass hierbei die Tiefe und der Verlauf einzelner Eis- und Gesteinsschichten bestimmt und aufgezeichnet werden. Was DeFries als Vibratoren bezeichnet hatte, sind schwere hydraulische Stempel, die künstliche Erdbebenwellen erzeugen. Vier bis fünf solcher Vibratoren reichten bereits aus, um Erschütterungen fünfzig bis einhundert Kilometer durch die Erdkruste zu schicken. Stahlplatten pressen sich dabei mit enormem Druck auf die Eis- oder Gesteinsoberfläche und senden an jedem Messpunkt mehrfach sekundenlange Vibrationswellen in die Tiefe, die von Schichtgrenzen und geologischen Störungen reflektiert werden. Zusätzlich werden an ausgewählten Orten in der Regel kleine Sprengladungen in Bohrlöchern gezündet. Alle Echos aus der Tiefe werden von am Boden angebrachten, sehr empfindlichen Mikrofonen aufgefangen, in elektrische Daten umgewandelt und in die Computer einer Messstation geleitet.
Ich betrachtete das Tomogramm, auf dem nicht nur ein großer Hohlraum unterhalb des Kraterzentrums, sondern auch die von DeFries beschriebene Anomalie deutlich zu erkennen waren. Am linken unteren Rand des Ausdrucks befand sich eine Meterskala, anhand derer ich die Größe des Objekts abschätzen konnte. Es erhob sich fast vierzig Meter über den Höhlenboden und besaß einen Durchmesser von annähernd zweihundert Metern!
»Aber – dieses Ding ist ja gigantisch!« Ich sah Rijnhard an. »Was für ein Organismus kann eine solche Größe erreichen?«
Rijnhard hob nur die Augenbrauen, als wolle er sagen: Einer, den noch nie jemand zuvor gesehen hat … »Und das wussten Sie die ganze Zeit?« Perplex sah ich von ihm zu DeFries. »Sie haben Chapmann und mich dort rausgeschickt, ohne uns zu warnen? Ohne ein einziges gottverdammtes Wort zu sagen? Das glaub’ ich einfach nicht …« Ich erhob mich unsicher vom Bett und schlurfte ziellos durch den Schlafraum. »Ich bin bereit zu glauben, dass unter dem Eis irgendetwas existiert. Ich habe diese Dinger gesehen und was sie mit Chapmann gemacht haben. Aber ich war gestern bereits allein dort draußen, Jon! Ich habe fast eine Viertelstunde lang vor dem Schluckloch gelegen und hinuntergestarrt!«
»Das Tageslicht hält es in der Tiefe«, beschwichtigte mich DeFries, ehe ich mich weiter auslassen konnte. »Nicht die Hitze der von Ihnen hinabgeworfenen Fackel hat ihm Schmerzen bereitet, sondern die Helligkeit. Magnesium brennt auch unter Wasser weiter. Diese Kreatur wird dort unten ausharren, solange die Sonne nicht untergeht.«
Eine tonnenschwere Amöbe, die aus dem Weltraum kommt, bei Sonnenlicht wie ein Vampir zu Staub zerfällt und mit Vorliebe Menschen frisst … Ich schüttelte den Kopf. »Diese Gallertklumpen hat das Licht nicht gestört«, warf ich ein.
»Es war stark bewölkt«, argumentierte DeFries. »Wie lange, sagten Sie, dauerte es, ehe sie wieder in die Tiefe zurückkrochen? Zwei Minuten? Drei?«
Ich wusste, was er damit sagen wollte: Diese Dinger hätten es keine Minute länger an der Oberfläche ausgehalten … In einer plötzlichen Eingebung griff ich nach meinen Anorak, der über einer Stuhllehne hing, und kramte in den Taschen, als wolle ich meine Zigaretten suchen. Meine Finger berührten eine flache, quadratische Form, und ich atmete im Geiste erleichtert auf. Die Zigaretten in der Hand, warf ich mir den Anorak über die Schultern. Was ich in seiner Innentasche ertastet hatte, war der Memory-Chip, den ich aus der beschädigten Videokamera gezogen hatte, ehe ich mit dem bewusstlosen Chapmann im Schlitten aufgebrochen war. Auf ihm war das gesamte Filmmaterial gespeichert – oder zumindest, was davon übrig sein mochte.
»Wo ist Chapmann eigentlich?«, fragte ich.
»Drüben im Infra-Block«, sagte Rijnhard.
»Ich will ihn sehen.«
DeFries schnaubte. »Er liegt im Koma. Wir haben eines der Notquartiere isoliert.«
»Isoliert?«
»Quarantäne. Wenn man es überhaupt so nennen kann.«
»Was fehlt
Weitere Kostenlose Bücher