Immer diese Gespenster
sich konzentrierte, bemerkte Hero, daß von den einundzwanzig Trümpfen des Spiels achtzehn in der Figur erhalten waren. Da fanden sich der Tod, das Gericht und der Teufel, da waren die Liebenden, die Enthaltsamkeit und das zerstörte Haus. Und schließlich auch der angebliche Träger des menschlichen Schicksals, der Gaukler.
«Sie waren als Kind nicht immer glücklich», begann Mrs. Taylor. «Von Ihrem siebenten bis zum elften Lebensjahr sehe ich Schwierigkeiten. Diese scheinen etwas mit einem dunkelhaarigen Mann — der nicht mit Ihnen verwandt ist — und einer älteren Frau zu tun zu haben. Ich sehe in Ihrer Jugend eine schwere Krankheit. Ursprünglich wollten Sie Medizin studieren, gaben diesen Plan aber unter dem Einfluß der älteren Frau auf. In der Schule schlossen Sie Freundschaft mit einem gleichaltrigen Jungen. Diese Freundschaft war für Ihr späteres Leben von großer Bedeutung. Ich sehe ein blondes Mädchen...» Mrs. Taylor leierte ihre Sprüche von Reisen, falschen Freunden, blonden und dunklen Fremden, die seinen Weg gekreuzt hatten, herunter und hielt schließlich inne, um Atem zu schöpfen.
«Meine liebe Mrs. Taylor», murmelte Hero, «es tut mir leid, wenn ich Sie kritisieren muß, aber Sie erzählen mir da einen Haufen Unsinn. Bis jetzt war kaum ein wahres Wort daran. Meine Kindheit war sehr glücklich. Ich hätte mehr von Ihnen erwartet.»
Er fühlte sich enttäuscht, denn er wußte, daß die Deuter des Tarocks oft erstaunlich genaue Angaben über ein menschliches Schicksal zu machen vermochten. Doch bis jetzt waren Mrs. Taylors Enthüllungen nicht mehr als das aufs Geratewohl aufgetischte Geschwätz einer Wahrsagerin. Das einzige, was etwa der Wahrheit entsprach, war die Erwähnung des Jungen in Eton, mit dem er enge Freundschaft geschlossen hatte. Doch das war nicht schwierig zu erraten, denn die meisten Jungen schließen in diesem Alter Freundschaften. Er dachte an Alan Hunter, den hochaufgeschossenen, dunklen, intelligenten Freund, der dafür verantwortlich war, daß er seinen jetzigen Beruf gewählt hatte. Er erlebte den Augenblick wieder, als er ihn zum letztenmal sah — tot. Alan war bei dem Versuch ertrunken, einen Schulkameraden vor dem Ertrinken zu retten. Die Erinnerung an seinen auf so tragische Weise ums Leben gekommenen Freund stimmte ihn traurig.
«Niemand hat größere Liebe», sagte Mrs. Taylor.
«Was?» stieß Hero heftig hervor.
Die Frau blickte erschreckt auf. «Habe ich etwas gesagt?» fragte sie. «Ich war in Gedanken. Ihre Bilder sind schlecht verteilt. Sie werden einen finanziellen Verlust erleiden und eine neue Beziehung anknüpfen...»
In dieser Weise schwatzte Mrs. Taylor weiter drauf los; doch Mr. Hero hatte plötzlich das Gefühl, als erbebe der Boden unter seinen Füßen. Da saß er mitten im zwanzigsten Jahrhundert mit einer recht derben Frau in einem modernen Zimmer und spielte ein kindisches Kartenspiel — und dennoch hatte sich eben das Unerhörte ereignet, daß sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, seine Gedanken lesen konnte. Ein Blick in eine andere Dimension tat sich auf. Er war im Innersten erschüttert und aufgewühlt. Würde es sich wohl wiederholen?
Mrs. Taylor plapperte ihre nichtssagenden Prophezeiungen herunter. Gutes und Schlechtes, Gesundheit und Krankheit hielten sich, wie Hero feststellte, hübsch die Waage, ganz im Gegensatz zu den Tarock-Weissagungen früherer Zeiten, die stets von Unheil und Verderben, einem gewaltsamen Tod am Galgen oder durch Mörderhand kündeten. Da senkte sich Mrs. Taylors Stimme plötzlich, wurde unsicher und brach ab.
Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sagte in ganz verändertem Ton: «Ich habe ein schlechtes Gefühl, ein sehr schlechtes Gefühl.» Dann keuchte sie: «Ich sehe Gefahr! Eine große Gefahr!»
Etwas Unheimliches schien den Raum zu erfüllen. Zum erstenmal, seit Hero in Paradine Hall weilte, packte ihn ein namenloses Grauen. Sein Magen drehte sich um, es flimmerte ihm vor Augen, es wurde ihm sterbensübel.
«Das ist sündhaft», murmelte Mrs. Taylor und wiederholte das Wort , als antworte sie einem Gesprächspartner.
Hero kämpfte gegen die Übelkeit an und fragte: «Was ist sündhaft? Wer ist in Gefahr?»
«Sie ist in Gefahr», sagte Mrs. Taylor. Dann fuhr sie überrascht fort: «Und Sie selbst auch. Das wußte ich nicht. Aber weshalb sollte jemand...?» Der Ausdruck des Erstaunens verwandelte sich in Entsetzen. «Oh», rief sie, «das andere ist ja noch viel schlimmer!
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