Immer für dich da (German Edition)
weh. Sie spürte, wo sie sich am Asphalt die Haut aufgeschürft hatte.
»Das war unglaublich«, sagte Tully und lachte.
»Spinnst du? Wir hätten uns den Hals brechen können.«
»Ganz genau.«
Kate versuchte aufzustehen und zuckte vor Schmerz zusammen. »Wir sollten erst mal aus diesem Graben raus. Vielleicht kommt ein Auto vorbei –«
»War das nicht cool? Wart erst mal, bis wir das den anderen erzählen.«
In der Schule. Das wäre eine tolle Geschichte, und Kate wäre einer der Stars darin. Die anderen würden mit offenem Mund zuhören und so etwas sagen wie: Ihr habt euch nachts rausgeschlichen? Ihr seid freihändig den Summer Hill runtergefahren? Unglaublich!
Und plötzlich musste auch Kate lachen.
Sie halfen einander hoch. Als sie wieder aufstiegen und weiterfuhren, spürte Kate ihre Schmerzen kaum noch. Sie fühlte sich plötzlich wie ein ganz anderer Mensch: kühner, tapferer, wagemutiger. Was machte es schon, wenn es Ärger gab? Was waren ein verstauchter Knöchel oder ein aufgeschlagenes Knie gegen ein Abenteuer wie dieses? Die letzten zwei Jahre hatte sie immer die Regeln befolgt und war an den Wochenendabenden zu Hause geblieben. Das war jetzt vorbei.
Sie ließen ihre Fahrräder am Straßenrand und humpelten hinunter zum Fluss. Im Mondlicht wirkte alles wunderschön – das silbrige Wasser, die bleichen, schroffen Steine am Ufer.
Tully ließ sich an einer Stelle, wo das Gras so dicht wie ein Teppich war, an einen moosbedeckten Baumstamm sinken.
Kate setzte sich so nah neben sie, dass ihre Knie sich fast berührten. Dann starrten sie in den sternübersäten Himmel. Das Plätschern des Flusses klang fast wie das perlende Lachen eines jungen Mädchens. Jetzt, in diesem Augenblick, war die Welt so friedlich und still, als hätte der Wind mit seiner kühlen Brise alles fortgeweht und nur sie allein an diesem Ort zurückgelassen, der bis jetzt nichts weiter als irgendeine Biegung des Flusses gewesen war, der jeden Herbst über die Ufer trat.
»Ich frage mich, wer unserer Straße ihren Namen gegeben hat«, sagte Tully. »Ich jedenfalls hab noch nie Glühwürmchen dort gesehen.«
Kate zuckte mit den Schultern. »Drüben an der alten Brücke ist die Missouri Street. Vielleicht war es irgendein Siedler, der Heimweh oder die Orientierung verloren hatte.«
»Vielleicht ist es aber auch Magie. Vielleicht ist es eine magische Straße.« Tully wandte sich zu ihr. »Dann wäre es Bestimmung gewesen, dass wir Freundinnen werden.«
Kate erschauerte bei der Vorstellung. »Bevor du hierhergezogen bist, dachte ich, es wäre nur irgendeine Straße, die nirgendwohin führt.«
»Aber jetzt ist es unsere Straße.«
»Wenn wir groß sind, können wir gehen, wohin wir wollen.«
»Es ist ganz egal, wohin wir gehen«, meinte Tully.
Kate hörte einen Anflug von Traurigkeit in ihrer Stimme, den sie nicht verstand. Sie sah sie an. Tully starrte in den Himmel.
»Denkst du an deine Mom?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich versuche, möglichst nicht an sie zu denken.« Sie schwieg eine Weile, dann kramte sie eine Zigarette hervor und zündete sie an.
Kate bemühte sich um eine ausdruckslose Miene.
»Willst du mal ziehen?«
Kate wusste, dass sie keine Wahl hatte. »Ach. Na klar.«
»Wenn meine Mom normal wäre – ich meine, nicht krank –, dann hätte ich ihr das von der Party erzählen können.«
Kate nahm einen vorsichtigen Zug von der Zigarette, hustete heftig und fragte: »Denkst du oft daran?«
Tully nahm die Zigarette zurück. Dann sagte sie: »Ich hab Alpträume davon.«
Kate wünschte sich, sie wüsste, was sie sagen sollte. »Was ist denn mit deinem Dad? Kannst du mit ihm darüber sprechen?«
Tully sah sie immer noch nicht an. »Ich glaube, sie weiß nicht mal, wer der Vater ist.« Ihr versagte die Stimme. »Oder er hat sich aus dem Staub gemacht, als er von mir hörte.«
»Das ist hart.«
»Das Leben ist hart. Außerdem brauche ich sie nicht. Ich hab ja dich, Katie. Du bist diejenige, die mir geholfen hat.«
Kate lächelte. Der Zigarettenrauch brannte ihr in den Augen, aber das machte ihr nichts. Wichtig war nur, dass sie hier mit ihrer neuen besten Freundin saß. »Dafür sind Freunde doch da.« Am nächsten Abend las Tully gerade das letzte Kapitel von Die Outsider, als ihre Mutter durchs ganze Haus brüllte: »Tully! Geh verdammt noch mal an die Haustür!«
Sie knallte das Buch auf den Tisch und ging ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter sich auf dem Sofa fläzte, einen Zug aus ihrem Bong nahm und
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