Immer Schön Gierig Bleiben
träumen.
30
Auch am Montag war Stiesel wieder vor Bördensen im Büro. Unter der Nummer in Ústí nad Labem erreichte er diesmal ein Kind, das auf Tschechisch in den Hörer sprach. Im Hintergrund rief ein zweites Kind etwas durch die Wohnung.
»Guten Tag, hier spricht Hagen Stiesel. Ich bin ein Polizist aus Deutschland und möchte gerne mit Lenka Husakova sprechen. Ist Lenka Husakova zu sprechen, bitte? Prosim!«
Prosim
hieß bitte, das einzige Wort auf Tschechisch, das Stiesel kannte.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Dann wurde getuschelt, schließlich der Hörer weitergereicht.
»Lenka Husakova?«, fragte Stiesel.
»Ja, ich bin am Apparat«, sagte eine Frau. Sie sprach bedächtig, die Vokale leicht gedehnt.
»Mein Name ist Hagen Stiesel, ich bin Polizist.«
»Ja.«
Die Kinder brabbelten im Hintergrund.
»Wir rollen den Mord an Melanie Schwarz noch einmal auf. Sie haben mit ihr zusammen vor zwölf Jahren in dem Irish Pub am Hackeschen Markt gearbeitet.«
»Das ist richtig. Haben Sie Melanies Mörder endlich gefunden?«
»Nein, wir haben einen zweiten Mord. Das Opfer, Verena Adomeit, hat auch in dem Irish Pub gearbeitet. Wir glauben, dass die beiden Morde zusammenhängen.«
»Verena ist auch tot? So ein böses Ende hat sie nicht verdient«, sagte Lenka Husakova.
»Kannten Sie Melanie gut?«
»Eigentlich nicht sehr gut«, sagte Lenka. »Ich habe ihr den Platz im Wohnheim vermittelt, aber sonst hatten wir nichts weiter miteinander zu tun. Wir haben fast immer in verschiedenen Schichten gearbeitet, und meine freie Zeit habe ich mit meinem Mann verbracht, wenn er in der Stadt war.«
Stiesel schüttelte den Kopf. Schon wieder eine tote Spur. »Aber Sie waren zusammen auf einem Foto in der Zeitung abgebildet, Sie und Melanie. Am 7. Juni 2001.«
»Ja, ich weiß. Ich habe an diesem Tag Gehalt ausbezahlt bekommen, weil ich für ein langes Wochenende nach Ústí nad Labem gefahren bin. Alle zwei Wochen bin ich nach Hause. Ich wollte nur kurz mit Frau Lambert reden und mein Geld holen. Als der Fotograf auftauchte, brauchten sie eine zweite Frau. Es sollten zwei auf dem Foto sein. Da habe ich mich dazugestellt.«
»Haben Sie auch im Wohnheim gewohnt?«
»Nein, bei Verwandten. Eine Bekannte ging zurück nach Prag, als Melanie im The Swan anfing. Da wurde ein Zimmer frei. Das hat Melanie übernommen. Ich wusste fast nichts von ihr.«
»Kannten Sie Verena Adomeit?«
»Auch nur wenig. Sie war …«
»Abweisend?«
»Verena war gierig. Gierig aufs Geld. Sie hat manchmal Tische abkassiert, für die sie nicht eingeteilt war. Dann hat sie die Kasse ausgezahlt, aber das Trinkgeld eingesteckt.« Lenka Husakova räusperte sich. »Ich weiß, man soll nicht schlecht sprechen von den Toten, und es ist schrecklich, dass sie ermordet wurde. Aber damals hat uns das sehr gestört. Wir haben zehn Stunden und länger in einer Schicht gearbeitet, und diese fünfzig Pfennig und eine Mark, das war ganz wichtig für uns. Und Verena hat uns abgezogen.«
»Gab es Probleme mit Gästen? Attacken, Pöbeleien? Gegen Verena oder Melanie? Gegen Sie oder andere Frauen, die in The Swan gekellnert haben?«
»Nein, nichts Wichtiges. Manche Gäste wollten unsere Telefonnummer, manche haben uns Blumen gekauft von den Rosenverkäufern. Aber alles ganz brav mit uns. Die Lamberts haben auf uns aufgepasst, wenn wir gearbeitet haben. Wenn Männer aggressiv wurden, dann haben sie es aneinander ausgelassen.«
»Und wie war Melanie?«
»Melanie war auch gierig. Gierig aufs Leben. Männer, Partys, Schaufenster anschauen. Die kam vom Dorf und hat es so geliebt, in der Stadt zu sein.«
»Hat sie viel Geld ausgegeben?«
»Nein, das nicht. Sie hat einfach gerne etwas Aufregendes erlebt.«
»Wann haben Sie Melanie zum letzten Mal gesehen?«
Lenka Husakova überlegte lange. Schließlich sagte sie: »Am Donnerstag vor ihrem Tod. Ich bin wieder nach Ústí nad Labem gefahren. Sie hatte Frühschicht.«
»Hat Melanie gesagt, was sie vorhat am Wochenende?«
»Ich glaube, am Freitag hatte sie frei. Sie war verabredet.«
»Mit einem Mann?«
»Nein, mit einer Freundin aus dem Wohnheim.«
»Und wo wollten die beiden hin?«
»Ins Theater.«
»In welches Theater?«
»Nein, nicht ins Theater, sie wollten auf eine Party.«
»Auf eine Party im Theater?«
»Nein, eine Party, die mit Theater zu tun hat.«
»Wo?«
»Das weiß ich nicht. Samstag musste sie ran. Niemand hat Freitag und Samstag freibekommen.«
»Nur Sie«, sagte
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