Immer Schön Gierig Bleiben
behalten. Er hat etwas von mir, aber mir fehlt die Zeit für ihn.
Im Rolling-Sushi-Restaurant sitze ich am liebsten direkt an der Öffnung, aus der die Teller auf dem Förderband herausrollen, quasi die Poleposition unter allen Sushi-Essern. Das Sushi am Anfang ist besonders frisch. Ich will nicht behaupten, dass ich den Unterschied schmecken würde, aber zu wissen, dass ich der Erste bin, der überhaupt ein Auge auf die Kreation des Chefs wirft, beflügelt mich, regt die Speichelsekretion an und öffnet die Geschmacksknospen. In gewisser Weise sind alle anderen Gäste Esser von meinen Gnaden, denn sie essen nur das, was ich nicht genommen habe. Außerdem kann man auf diesem Platz immer wieder einen Blick in die Küche werfen. Da liegt ein ganzer Fisch auf dem Brett und mit wenigen Schnitten wird er filetiert, in mundgerechte Häppchen zerlegt und kunstvoll servierfertig gemacht. Wie sie dort mit den japanischen Messern hantieren, wie sie rollen, wenden, befüllen, ein Ballett der Finger. Ich erfreue mich an jedem Handgriff, den ich mir abschauen kann.
Mein Lieblingsrestaurant bietet zahlreiche Vorteile. Nicht nur die Fensterfront auf die Karl-Marx-Allee, die einem vermittelt, wie klein und unbedeutend man im Grunde ist. Es gibt hier auch kein
All you can eat
. Dass so eine Veranstaltung dazu auffordert, so viel zu essen, wie man kann, und nicht so viel, wie man möchte, sagt doch schon alles. Hier findet man niemanden, der möglichst viele Tellerchen der Preiskategorie vier leer frisst, alles in sich hineinschiebt, und sich dann auf dem Bürgersteig übergibt. Hauptsache teuer. Erbrochener Fisch mit Sake, eine Großstadtimpression, auf die ich ebenso gern verzichte wie auf dieses Ambiente hier an meinem jetzigen Aufenthaltsort. Wobei ich es ansonsten genieße, dieses rohe, wilde Leben, das einen in der Großstadt unvermittelt anspringt.
Auch diese Verena war zu gierig. Gier muss einem nicht peinlich sein, aber doch nicht so. Der Wunsch nach mehr darf nichts Unbeholfenes haben. Man ergreift seine Beute in einer einzigen fließenden Bewegung im Rhythmus der Atemzüge, so wie man ein Haiku schreibt.
8
Beschwingten Schrittes betrat Hauptkommissar Pachulke am nächsten Morgen das Polizeipräsidium. Gestern Abend hatte er sich noch ein bisschen Rubinstein angehört, aus seinen eigenen Beständen. Chopin natürlich, die Klaviersonate Nummer 2. Vielleicht etwas melodramatisch für Rahmschnitzel mit Salzkartoffeln, aber im Moment hatte er nur Rubinstein im Kopf. Frisch verliebt in Rubinstein. Rubi.
Studio Sessions minus sechs
. Es gab nur zwei oder drei Sammler, die in diese Dimension vorgestoßen waren. Beim Abendessen – er hatte sich hinreißen lassen und drei große Kartoffeln gegessen, aber Rahmsoße kann man ja nicht ohne alles löffeln – hatte er sich das neue Regal in Birke in allen Details vorgestellt.
Pachulke grüßte Speckler, der mit seiner Augenklappe in der Pförtnerloge saß und jeden Ankömmling durchdringend musterte. Als wollte er der Welt beweisen, dass sein gesundes Auge so gut wie zwei funktionierte.
Pachulkes Weg führte in die Kantine. Er besah sich die Auslagen, aber nach Joghurt und Rohkost stand ihm nicht der Sinn. Warum war er bloß schon wieder so hungrig? Zwei Eier mit Speck und ein Marzipancroissant waren gerade mal eine gute Stunde her. Nothoff, die männliche Thekenkraft, schichtete gerade Bouletten in die Auslage.
»Haben Sie noch tote Brötchen?«, fragte Pachulke.
Nothoff sah auf, und Pachulke bemerkte, dass er eine neue Augenklappe hatte. Sie ließ Nothoff jünger aussehen. Wenn er sich auch noch rasiert und seine Haare nicht einfach an die Schläfen geklatscht hätte, wäre er ein ganz anderer Mensch gewesen.
»Eins hab ich noch, eine Auslage weiter. Wollen Sie nicht etwas von dem Fruchtjoghurt?«
»Ach wissen Sie, Obst …« Pachulke betrachtete das Brötchen. »Und es ist wirklich tot?«
»Mausetot. Es liegt hier seit zwei Wochen und hat sich kein einziges Mal bewegt.«
»Na ja, dann …« Pachulke holte sich eine Pappunterlage und ein Tütchen Senf, dann ließ er sich einen großen schwarzen Kaffee aus der Maschine. Nothoff wartete an der Kasse.
Auf Pachulkes Schreibtisch lag der Bericht von Tenbrink dem Gerichtsmediziner: Die Obduktion der Toten von Stralau.
Verena Adomeit war fünfunddreißig Jahre alt und hätte in gut drei Wochen ihren sechsunddreißigsten Geburtstag feiern können, wenn ihr nicht jemand dazwischengekommen wäre.
Der Obduktionsbericht bot die
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