Immer Schön Gierig Bleiben
um sechs nach Hause. Erst fährt der 347er vorbei, zehn Minuten später klingelt Frank.«
»An der Tür?«
»Nein, mit der Fahrradklingel. Er klingelt, wenn er um die Ecke biegt. Sie sollten mal sehen, wie Lena sich freut.«
»Und Ihr Mann arbeitet …?«
»Im Bundesgesundheitsministerium. Frank fährt fast immer mit dem Fahrrad zur Arbeit. Auch im Winter.«
»Und die Männer der anderen Mütter …«
»Sind auch ungefähr zwischen acht und achtzehn Uhr unterwegs. Wir sind allein hier den ganzen Tag. Eine Halbinsel voll mit einsamen, jungen Frauen.« Wieder zwinkerte Frau Rentze Bördensen zu. »Aber im Herbst ist die neue Kita fertig.«
Sie wedelte in die Richtung, aus der Bördensen gekommen war, und er erinnerte sich an eine Baustelle, ein nagelneues knallrotes Gebäude, man war gerade dabei, die Fenster einzusetzen und den Garten herzurichten.
»Da werde ich mich dann auch wieder ins Getümmel stürzen, und Frank geht auf Teilzeit.« Bevor Bördensen fragen konnte, sagte sie: »Ich arbeite auch im Ministerium. Da haben wir uns kennengelernt. Ich war seine Vorgesetzte.«
»Also nur Mütter ohne Männer?« Bördensen runzelte die Stirn. »Es spricht vieles dafür, dass die Tote von einem Mann getötet wurde. Sie wurde erwürgt, das erfordert sehr viel Kraft.«
»Na, hören Sie mal.« Frau Rentze zeigte ihren Bizeps.
»Ich weiß, Frauen sind auch kräftig. Sagen wir es so: Einen Menschen zu erwürgen, erfordert ein gewisses Maß an Hemmungslosigkeit und Überwindung. Eine wütende Frau kann sicher so fest zuschlagen, dass der Schlag tödlich ist, vor allem, wenn sie eine Waffe hat. Aber eine Frau, die erwürgt wurde – das war fast immer ein Mann.«
Als Frau Rentze sprach, klang ihre bis eben muntere Stimme eine Oktave tiefer. »Das war bestimmt kein schöner Anblick.«
»Opfer eines gewaltsamen Todes sind kein schöner Anblick, das stimmt«, sagte Bördensen.
Frau Rentze warf einen langen Blick auf Lena, die sich mit zwei Stofftieren beschäftigte. »Es sind natürlich nicht nur Frauen hier«, sagte sie dann. »Ein paar von den alten Stralauern leben noch hier. Die sind praktisch alle in Rente. Einige leben in den Laubenkolonien, einige in den alten Häusern, die nicht in den letzten zehn Jahren gebaut wurden. Das sind Paare und Witwer. Dann gibt es auch alleinstehende Männer, die von ihren Frauen verlassen wurden, meistens sind sie ganz allein, manchmal ist das Kind bei ihnen, aber das ist selten. Bei manchen Familien arbeitet die Frau auswärts und der Mann macht etwas mit Homeoffice, online, eine Arbeit, die er zu Hause erledigen kann. Die Selbständigen haben ihr Büro gleich hier eingerichtet. Dann kommen den ganzen Tag über Lieferanten. Der Paketbote: Ebay, Zalando, Amazon. Der Mann mit dem Wasser, der Mann mit der Tiefkühlkost, der Klempner, der Gärtner, der Innenarchitekt. Makler haben Besichtigungstermine. Angler sind zu jeder Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang hier. Jogger, Hundebesitzer. Und abends, kaum dass Frank und Lena und ich beim Abendessen sitzen, kommt die erste tiefergelegte Stereoanlage die Tunnelstraße heruntergerollt. Und dann wird gegrillt auf der Wendenwiese. Es ist wie auf dem Land hier. Früh kräht der Hahn, abends ist Party. Ein sehr fester Rhythmus, bei dem jeder seinen Platz hat. Jeder ist da, wo er sein soll.«
»Bloß die Tote nicht«, sagte Bördensen.
Zabriskie war nördlich vom Leichenfundort unterwegs, in der Jollenseglerstraße, die die Straße Alt-Stralau in West-Ost-Richtung querte. Kaum hatte sie den Klingelknopf losgelassen, wäre sie beinahe von einem Mann umgerannt worden, der anscheinend im Dunkel des Treppenhauses auf sie gewartet hatte.
»Können Sie nicht lesen?«, brüllte er. Es war ein Hüne mit mindestens zwanzig Kilo Übergewicht. Hundertzwanzig wutschnaubende Kilos drängten Zabriskie an die Wand des Vorbaus, unter dem die Briefkästen angebracht waren. Der Hüne trug einen blauen Overall und hatte fette Backen, die von roten Äderchen durchzogen waren. Er stank nach Apfelkorn, und die süßliche Note löste zusammen mit seinen Körperausdünstungen bei Zabriskie einen Brechreiz aus. Er sah sich nach links und rechts um und spähte über Zabriskies Schulter. »Wo ist er, na los, wo ist er? Wo ist Ihr verdammter Rentnerchopper, den Sie bis zum Anschlag mit Ihrem Papiermüll gefüllt haben, um ihn in meiner Wohnanlage zu verteilen?« Er musste Luft holen, und tief unten in seinen Eingeweiden gurgelte es gefährlich. »
Bitte – keine
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