Immer Schön Gierig Bleiben
gekommen, um mir eine deiner Tiraden vorzutragen?«
»Darf ich reinkommen?«, fragte Victor.
»Natürlich darfst du reinkommen.«
Bereits im Gang war es zu eng. Irgendwie schaffte es Victor, sich aus seiner Jacke zu wuchten. Neben ihm stand ein Regal mit allerlei technischem Gerät. Er sah drei Kassettenrekorder, eine digitale Küchenwaage, eine Kamera, die auf einer Metallplatte befestigt war, eine Wetterstation mit rundem Thermometer und Barometer, in einem Holzbrett eingelassen, einen kleinen Fernseher mit Tragegriff, der wahrscheinlich bei der Mondlandung mit dabei gewesen war.
Wortlos gingen die beiden Männer ins Wohnzimmer. Vincent bückte sich behände und schob einen Stapel vergilbter Papiere vom Sofa auf einen Beistelltisch, auf dem schon ein anderer Stapel Papiere lag.
Das war neu. Das Zeitungsarchiv, wie es sein Vater nannte, war im Zimmer nebenan, ein riesiger Berg Zeitungen aus den letzten vier Jahrzehnten, unsortiert übereinandergeschichtet. Oder mittlerweile auch vorsortiert. Oder umsortiert. Oder neu sortiert. Victor hatte keine Ahnung. Würde sein Vater in einem freistehenden, und nicht in einem Reihenhäuschen wohnen, hätte er das Haus längst niedergebrannt. Victor wollte nie mehr in seinem Leben auch nur eine einzige vergilbte Zeitung sehen.
Er setzte sich vorsichtig. Neben ihm auf dem Sofa lagen zwei Sicherheitshelme für Bauarbeiter, einer gelb, einer weiß. Vincent setzte sich in einen großen Sessel.
»Was sind denn das für Sachen da draußen im Regal?«, fragte Victor.
»Da draußen? So verschiedenes technisches Gerät, Kabel, Kram, keine Ahnung«, sagte Vincent. Er hielt sich an den Armlehnen des Sessels fest und saß ein wenig vorgebeugt, so als wollte er sich gleich auf Victor stürzen.
Wenn du keine Ahnung hast, was es ist, warum schmeißt du es nicht weg?
, dachte Victor.
Aber ich muss doch erst wissen, was es ist, bevor ich es wegschmeiße
, würde sein Vater antworten.
»Wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn du bei uns einziehst, Britta und ich«, sagte Victor. Er hoffte, seine Stimme klang normal, nicht bemüht oder gepresst.
»Ihr habt doch gar keinen Platz für all meine Sachen«, sagte Vincent.
»Wir gehen davon aus, dass du dich vom größten Teil deiner Sachen trennst, bevor du zu uns kommst.«
»In der Tat habe ich mich dazu entschlossen«, sagte Vincent.
Victor glaubte sich verhört zu haben. »Was?«
»Ich ziehe zu euch und lasse meine Sachen zurück, aber erst, wenn ich hier fertig bin. Ich will einfach alles noch einmal in die Hand nehmen, mir aufschreiben, was mir dazu einfällt, und dann werfe ich es weg.«
»Und wie lange soll das dauern?«, fragte Victor.
»So lange wie es eben dauert. Ein Jahr, zwei Jahre.« Vincent tippte sich an die Stirn. »Alles, was da drin ist, muss raus. Aufs Papier.«
Aus dem Nebenzimmer kam ein quietschendes Geräusch. Einmal, zweimal. Es war ein Fiepen.
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Victor.
»Was? Ich höre nichts«, sagte Vincent.
Aber Victor war schon aufgestanden und ins andere Zimmer gegangen.
»Nichts, das geht dich nichts an«, sagte sein Vater und drängelte sich hinter ihm herein.
Die Zeitungen stapelten sich bis unter die Decke. Rechts an der Wand stand eine Aluminiumleiter.
»Du sollst doch nicht mehr auf Leitern steigen, Vater.«
»Und wenn ich etwas suche?«
»Was zum Beispiel?«
»Eine Anzeige.«
»Eine Kleinanzeige aus dem Jahr 1962?«
»Zum Beispiel. Dann muss ich wohl oder übel auf eine Leiter steigen.«
Es fiepte wieder, und eine Maus spazierte zwischen Victors Schuhen hindurch und in einen Zeitungsstapel hinein.
»Hast du das gesehen? Das war eine Maus«, sagte Victor.
»Eine Maus? Ja, kann sein.« Vincent sah zur Seite. »Ja? Und? Ist eben eine Maus hier, das kommt eben mal vor.«
»Sie hat ein Nest in deinem Zeitungsarchiv angelegt.«
»Was? Nein, das glaube ich nicht.«
Victor tippte mit der Schuhspitze gegen den Stapel, in dem die Maus verschwunden war, und der Stapel sackte leicht in sich zusammen. All die aufgestapelten Zeitungen kamen ins Rutschen, und eine Papierlawine kippte nach rechts und verkeilte sich auf dem Fußboden. Eine Welle von Mäusegestank stieg Victor in die Nase. Über und zwischen den Zeitungen huschten Mäuse in alle Richtungen davon: vier, sieben, zehn.
»Das Haus wird komplett geräumt, Vater.«
»Ich brauche Zeit, Victor. Du kannst mich nicht so einfach überrumpeln.«
»Wie lange sind die Mäuse schon da?« Victor Sherman ballte die
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