Immer Schön Gierig Bleiben
Benutzer im Lesesaal herumfuhren.
»Das hier ist das erste Halbjahr 2001 der linksliberalen Tageszeitung, Profil ›erlebnishungrig-hauptstädtisch‹.« Sie klopfte sich den Staub von den Händen und deutete auf die zwei anderen Folianten, die noch auf dem Wägelchen lagen. »Als Garant für eine pluralistische Medienlandschaft haben wir außerdem eine spätbürgerliche Tageszeitung im Angebot, Profil ›bräsig-beliebig‹. Und zur sozialhistorischen Vertiefung die meinungsführende Tendenzpostille für Muttis, Muslimenhasser und Mantafahrer mit dem Profil ›Ohne Großhirn lebt sich’s leichter‹. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, kommen Sie gerne zu mir.«
Stiesel murmelte ein Dankeschön und nickte, um sich selbst anzuspornen. Es war Samstagvormittag, und er ermittelte. Manchmal war es ein großer Vorteil, Single zu sein und eine Mutter zu haben, die tagsüber gut mit sich allein zurechtkam.
Verführerisch und appetitlich lag dieses zwölf Kilo Megabrikett Altpapier vor ihm und barg so viele Geheimnisse. Vielleicht war darin auch mehr über die zwei ermordeten Frauen zu finden. Er schlug den Deckel des Folianten auf und senkte ihn behutsam nach links, wie eine Zugbrücke. Hereinspaziert in ein brandneues Jahr, willkommen zur Ausgabe vom 2. Januar 2001, einem Dienstag. Stiesel überflog die Schlagzeilen der Titelseite und blätterte dann zum Lokalteil weiter. Die Weltpolitik würde zur Lösung dieses Falls nichts beitragen. Die Welt zu Gast in Gestalt von Touristen vielleicht schon eher. Nachdem er die erste Woche des Jahres überflogen hatte, wälzte er den riesigen Mittelteil um und blätterte einige Tage zurück. Den Juni 2001 wollte er sich genau ansehen.
Tag für Tag gewann der Frühling an Boden. In Mitte kämpfte eine Baustadträtin dafür, dass die alte Bevölkerung nicht vollständig vertrieben wurde. Kein Totalaustausch der Bevölkerung, soziale Strukturen erhalten. Fast jeden Tag wurde sie im Lokalteil erwähnt, manchmal stand sie auch auf der Titelseite. Wie ein Grundrauschen lief im Hintergrund das kulturelle Angebot mit: Open Air Classic, Filmpremieren, Theaterfestivals, szenische Lesungen, Abschlussprüfungen in der Hochschule für Musik Ernst Busch, Eintritt frei. Auf dem Gelände des Tierheims in Lankwitz wurde mit dem Bau von Eigenheimen begonnen. Es herrschte Abschiedsstimmung, als die Hunde ihre Kunststücke vorführten. Die Brachen verschwanden, eine um die andere.
In Potsdam war Bundesgartenschau, zur selben Zeit als Melanie Schwarz ermordet worden war. Vielleicht hatte Dorfner ja im Prinzip doch recht, von seinem homophoben Quatsch einmal abgesehen. Die Stadt war voll mit Fremden an diesem Wochenende. Und einer von den Hunderttausenden war in der Lage, mit Schminke und Lippenstift umzugehen. War ja auch keine Geheimwissenschaft. Union hatte einen Monat zuvor im Pokalfinale gegen Schalke zwar verloren, war aber in die Zweite Liga aufgestiegen und spielte im UEFA-Cup. Du liebe Güte, war das lange her.
Immer am Donnerstag brachte die Zeitung ein Foto von zwei jungen Leuten. Die Serie hieß »Generation 21«. Jeder Beitrag begann mit dem Vorspann:
Das 21. Jahrhundert hat begonnen, und wir porträtieren zwei junge Menschen, bei der Arbeit oder in der Ausbildung. Was tun sie? Was gefällt ihnen an der Arbeit? Was nicht? Wo sehen sie sich beruflich in zehn Jahren? Was erhoffen sie sich vom neuen Jahrhundert?
Am 21. Juni waren es zwei Landwirtschaftsstudenten der Humboldt-Universität. Heiko, 22, wollte nach dem Studium zurück nach Mecklenburg-Vorpommern und dort den elterlichen Hof auf ökologische Bewirtschaftung umstellen. Nwankwo, 24, aus Nigeria, würde nach der Rückkehr in sein Heimatland in der Kakaoproduktion arbeiten. Er wünschte sich, dass der neue Staatspräsident Obasanjo die Korruption erfolgreich besiegen konnte.
Ein amerikanischer Staatsbürger stand vor Gericht, weil er übersehen hatte, seine Aufenthaltserlaubnisverlängerung zu beantragen. Eine Podiumsdiskussion widmete sich den Fragen:
Wer baut eigentlich die Städte? Die Investoren, die Stadtplaner oder die Nutzer?
Stiesel blätterte rückwärts. Die Regierung der Stadt trat zurück, und das war auch gut so. Der neue Regierende Bürgermeister war schwul, und man spekulierte, ob er den Christopher Street Day besuchen würde. Ein dreijähriger Junge war allein in einem Bus fast eine Stunde durch die Gegend gefahren. Es gab öffentliche Proteste, weil ein Denkmal für die Bücherverbrennung am Bebelplatz durch eine
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